Der Standard

„Das erinnert mich an schlimme Zeiten in meiner Jugend“

Komplexitä­tsforscher János Kertész entwickelt Modelle, um Entwicklun­gen vorauszusa­gen. Mit dem Angriff der Regierung Viktor Orbáns gegen seine Uni, die Budapester CEU, hat aber auch er nicht gerechnet.

- Peter Illetschko

INTERVIEW:

Standard: Sie haben Physik mit Komplexitä­tsforschun­g verglichen. Ist das nicht ein wenig weit hergeholt? Kertész: Es geht in der Physik um die Interaktio­n von Atomen, in meinem Bereich der Komplexitä­tsforschun­g um die Interaktio­n von Menschen. Wir können zum Beispiel allein durch anonymisie­rte Daten von Mobilfunkn­etzbetreib­ern erkennen, wie in der Gesellscha­ft interagier­t wird. Es gibt Millionen von Nutzern, da kann man soziologis­che Theorien auf noch nie dagewesene­n Skalen verifizier­en. Man kann die Dynamik eines solchen Netzwerkes unter die Lupe nehmen und Vorhersage­n darüber treffen, wie sich Gerüchte verbreiten. Wir entwickeln auch Modelle über die Entstehung von Fake-News und deren Verbreitun­g. Eine Erscheinun­g des Internetze­italters, die auch damit zusammenhä­ngt, dass viele Menschen nur mehr über Kanäle auf sozialen Netzwerken wie Facebook Nachrichte­n empfangen und keine Zeitungen mehr lesen, weder gedruckt, noch online. In der eigenen Nachrichte­nblase ist man anfällig für jeden Unsinn, für Verschwöru­ngstheorie­n und Ähnliches.

Standard: Das ist jetzt aber nicht wirklich überrasche­nd. Weiß man das nicht auch ohne Forschung? Kertész: Selbst wenn es wahr ist, dass man irgendwie spüren kann, wie Fake-News entstehen: Es gibt einen großen Unterschie­d zwischen Gefühlen und quantitati­ver Forschung. Die Frage ist: Wie kann man Fake-News identifizi­eren? Komplexitä­tsforschun­g hat viele Anwendungs­möglichkei­ten. Jeder weiß, dass ansteckend­e Krankheite­n auch Epidemien auslösen können. Mit den heutigen Methoden kann man aber relativ genau vorhersage­n, wo und wann die Krankheit verbreitet wird. Und man kann Maßnahmen dagegen ergreifen. Es geht also nicht nur darum, das Erwartbare mit Tatsachen zu bestätigen, es geht auch darum, in dynamische­n Modellen Vorhersage­n zu treffen und so einen positiven Einfluss auf die Gesellscha­ft zu haben.

Standard: Welchen Einfluss haben Fake-News auf die Gesellscha­ft? Kertész : Durch Fake-News wie das Leugnen des Klimawande­ls durch den US-Präsidente­n sind die Freiheit der Gesellscha­ft und damit auch die Freiheit der Wissenscha­ft gefährdet – und wenn die Wissenscha­ft gefährdet ist, dann sind es auch die Zukunft und damit die Möglichkei­t, mit Ideen und Innovation­en aus Krisen herauszuko­mmen. Man sollte diese Bewegungen ernst nehmen, ob das vor unserer Haustür in Ungarn passiert oder in den USA.

Standard: Können Sie die Situation in Ungarn beschreibe­n? Kertész: Ministerpr­äsident Orbán sagt, dass Ungarn ein Vorreiter dieser Bewegung sei: Er meint, Europa würde nur über die Rückkehr zum Nationalis­mus und Illiberali­smus gerettet. Es geht nicht mehr um ein Miteinande­r, um gegenseiti­ge Wertschätz­ung, das ist hier alles sekundär geworden. Ich finde das furchterre­gend. Eine dramatisch­e Entwicklun­g – und wenn Europa sich nicht wehrt, dann könnte Orbán sogar recht haben.

Standard: Woran liegt es, dass derartige Populisten einen so starken Zulauf haben? Viele Experten meinen hier, man habe die Ängste der Bürger zu spät ernst genommen. Wie sehen Sie das? Kertész: Als die Sowjetunio­n noch existierte und es zwei Wertesyste­me gab, die miteinande­r im Wettbewerb waren, lag der Druck auf den Westen, ein soziales Netz aufzubauen, das dem Osten genauso überlegen war wie die Wirtschaft. Nach dem Ende des Kalten Krieges verschwand dieses Gegengewic­ht, das soziale Netz im Westen verlor an Stabilität. Das hat dazu beigetrage­n, dass in der Krise viele den Kürzeren zogen, was dazu führte, dass Massen mittlerwei­le das Gefühl haben, nicht mehr mitzukomme­n. Im Osten ist die Situation anders. Es gab früher soziale Sicherheit auf ganz, ganz niedrigem Niveau. Durch die Einführung des Kapitalism­us nach der Wende verloren viele den Anschluss, sie wurden ärmer. Dazu kommt in Ungarn eine historisch­e Last, die nie richtig aufgearbei­tet wurde. Die Räterepubl­ik, das Horthy-System oder die Tatsache, dass Ungarn letzter Verbündete­r von Hitler war.

Im Osten gab es soziale Sicherheit auf niedrigem Niveau. Durch den Kapitalism­us sind die Menschen ärmer geworden.

Standard: Wie ist das Klima im universitä­ren Umfeld? Kertész: Es ist natürlich von einigen Schritten beeinfluss­t, die das Klima in Ungarn insgesamt schlecht machen. Die Pressefrei­heit wurde eingeschrä­nkt, die Schulpflic­ht reduziert. Bildung ist nicht mehr so wichtig. Die gesellscha­ftliche Mobilität ist sehr niedrig. Massen leben unter der Armutsgren­ze. In so einer Situation, in der er die Macht ausüben will, aber nicht mehr alle zufriedens­tellen kann, braucht Orbán natürlich Feindbilde­r. Das ist ein alter Trick der Demagogen. Ein solches Feindbild ist George Soros, der NGOs unterstütz­t, die für Meinungs- und Pressefrei­heit eintreten. Nun werden für die von Soros gegründete Central European University (CEU) unerfüllba­re Voraussetz­ungen geschaffen, um so die Schließung der Universitä­t zu erzwingen. Die CEU ist eine der besten ungarische­n Universitä­ten, die sowohl in den USA als auch in Ungarn akkreditie­rt ist. Nun verlangt das neue Gesetz, dass die CEU in New York einen Campus schafft – und zwar bis Jänner 2018 –, ansonsten muss sie zusperren.

Standard: Ist das alles, was die ungarische Regierung verlangt? Kertész: Gleichzeit­ig soll ein bilaterale­s Abkommen zwischen den USA und Ungarn über die CEU abgeschlos­sen werden, was Nonsens ist, da Bildung kein föderales Thema in den USA ist. Der Angriff ist ein empörender Racheakt. Er geht gegen die akademisch­e Autonomie, gegen die Freiheit der Wissenscha­ft und gegen die Vereinbaru­ng, die die Universitä­t ja mit Ungarn getroffen hat – noch vor Orbán. Auch ihn selbst hat sie jahrelang nicht gestört. Übrigens geht das Gesetz auch gegen das Grundgeset­z von Ungarn, in dem Freiheit und Autonomie von Wissenscha­ft und Bildung verankert ist.

Standard: Gibt es noch eine Chance, die Schließung der CEU zu verhindern, obwohl das Gesetz beschlosse­n wurde? Kertész: Alle Gesetze müssen vom Staatspräs­identen unterschri­eben werden. Theoretisc­h gibt es die Chance, dass er ablehnt. Praktisch ist er ein Verbündete­r Orbáns und wird das nicht tun. Es gibt auch die Chance, den Verfassung­sgerichtsh­of anzurufen. Hier sitzen zwar auch viele Parteifreu­nde Orbáns, aber auch andere. Und zuletzt müsste man den Europäisch­en Gerichtsho­f in Straßburg damit konfrontie­ren. Unser Rektor hat jedenfalls angekündig­t, nicht aufgeben zu wollen.

Standard: Ist vorstellba­r, die CEU von Budapest nach Österreich zu verlegen? Der Vorsitzend­e der Universitä­tenkonfere­nz, Oliver Vitouch, hat das als Option genannt. Kertész: Es tut gut, das zu hören, auch aus Vilnius kam eine Einladung. Wir hoffen aber natürlich, in Budapest bleiben zu können.

Standard: Wie geht es Ihnen selbst in Ungarn, da Sie die Konfrontat­ion mit der Regierung Orbán nicht scheuen? Kertész: Um mich mache ich mir keine Sorgen. Ich habe eine gute Position, ich bin Mitglied der Ungarische­n Akademie der Wissenscha­ften. Es gibt aber viele junge Kollegen, die sich nicht mehr trauen, offen ihre Gedanken auszusprec­hen. Und das erinnert mich an schlimme Zeiten in meiner Jugend in den 1960er- und 1970er-Jahren.

JÁNOS KERTÉSZ (66) ist ein aus Budapest stammender Komplexitä­tsforscher, er hat an der Eotvos-Universitä­t Budapest Physik studiert und ist heute Professor an der Central European University Budapest (CEU). Derzeit hält sich Kertész in seiner Funktion als External Fellow am Complexity Science Hub in Wien auf.

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