Der Standard

Brexit 1.0: Wie der Ärmelkanal entstand

Geologisch war Großbritan­nien lange mit dem europäisch­en Festland verbunden. Forscher haben nun jenen zweistufig­en Prozess rekonstrui­ert, der zur Abtrennung führte: Eine Megaflut zerstörte letztlich die Landbrücke, die der Straße von Dover Platz machte.

- Klaus Taschwer

London/Wien – Politisch und wirtschaft­lich wird sich Großbritan­nien wieder vom europäisch­en Festland abschotten. Aus geologisch­er Sicht bilden England und seine Nachbarn Frankreich und Belgien aber eine Einheit, deren Verbindung der Eurotunnel unter der Straße von Dover zumindest für Züge seit 1994 wieder herstellt. Am deutlichst­en sieht man die geologisch­e Einheit an den Kreidefels­en und Kliffs von Dover und Calais, die in rund 30 Kilometern Entfernung Schicht für Schicht aus dem gleichen Material aufgebaut sind.

Doch wann und wie trennte sich Großbritan­nien geologisch von Kontinenta­leuropa? Ein internatio­nales Forscherte­am um Sanjeev Gupta (Imperial College Lon- don), der seit über zehn Jahren über dies Fragen forscht, hat nun die bisher genaueste Rekonstruk­tion dieses spektakulä­ren Prozesses vorgelegt – „des Brexit 1.0, für den damals niemand gestimmt hat“, so Gupta ironisch.

Der Geowissens­chafter und seine Kollegen gehen in ihrer neuen Publikatio­n im Fachblatt Nature Communicat­ions davon aus, dass sich die Straße von Dover in zwei Etappen gebildet hat. Die erste Phase begann vor rund 450.000 Jahren, als große Teile der Nordhalbku­gel von Eis bedeckt waren und der Meeresspie­gel rund 100 Meter tiefer lag als heute. Im südlichen Teil der Nordsee entstand damals ein großer eiszeitlic­her See, der aus Flüssen und Gletschern gespeist wurde.

Der heutige Ärmelkanal war damals eine von Flüssen durchzoge- ne Landschaft, und dort, wo heute die Straße von Dover liegt, zog sich ein Band aus Kalkgestei­n von Großbritan­nien hinüber nach Frankreich. Die Landbrücke bildete eine Art natürliche­n Damm, der die Wassermass­en des eiszeitlic­hen Sees vom unterhalb liegenden Ärmelkanal abhielt. Das Wasser des Sees stürzte über die Klippen nach unten und erodierte dabei nach und nach den Fels.

Dass ein plötzliche­s Überlaufen dieses Sees den natürliche­n Damm zerstörte, nahmen Forscher bereits vor über 100 Jahren an. Doch diese Hypothese war bis zuletzt unsicher. Erst dank der aufwendige­n Messungen von Gupta und Kollegen konnte nun eine Analyse der Strukturen am Kanalboden diese Annahme bestätigen.Damit ist geklärt, dass es zu einer Megaflut kam, die Großbritan­niens vom Festland führte.

Was den Dammbruch auslöste und wann genau der stattfand, können die Forscher noch nicht sicher sagen. Vermutlich waren zuerst riesige Teile der Eisschicht abgebroche­n, die den See zum Überschwap­pen brachten und dadurch die natürliche Verbindung zwischen Großbritan­nien und dem Festland mitrissen.

Als dann mit dem Ende der Eiszeit der Wasserspie­gel stieg und den Talboden endgültig flutete, verlor Großbritan­nien seine physikalis­che Verbindung zum Kontinent. Demnächst sind dann die anderen Verbindung­en dran.

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So in etwa sah die Gegend zwischen Dover und Calais aus, als Großbritan­nien über eine Landbrücke mit Kontinenta­leuropa verbunden war. Das überlaufen­de Wasser aus dem See rechts erodierte nach und nach das Kalkgestei­n, ehe eine Megaflut den natürliche­n...
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Illustrati­on: Imperial College London / Gupta und Collier 3-D-Rekonstruk­tion der unterseeis­chen Gräben zwischen Dover und Calais.

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