Der Standard

„Kirschkern­spucken kann auch eine Begabung sein“

Der deutsche Neurobiolo­ge und vielfache Buchautor Gerald Hüther stellt unserem Schulsyste­m ein vernichten­des Zeugnis aus, sieht aber wachsenden gesellscha­ftlichen Druck für echte Reformen. Wo immer es Schulen gab, haben sie nicht zur Entfaltung von Potenz

- Josef Kirchengas­t

INTERVIEW:

Standard: „Rettet das Spiel“ist der Titel Ihres jüngsten Buches, das Sie zusammen mit dem Philosophe­n Christoph Quarch geschriebe­n haben. Gehen wir dieses Gespräch also spielerisc­h an: Welche Einstiegsf­rage wäre für Sie die denkbar dümmste? Hüther: Es gibt keine dummen Fragen. Aber mitunter würde ich erkennen, dass Sie Inhalt und Anliegen des Buches offenbar nicht so gut verstanden haben, wie wir uns das wünschten, als wir es schrieben. Wenn Sie mich etwa fragten, welches Brettspiel wir nun spielen sollen, also welches kommerziel­le Produkt, das wir Spiel nennen, das von mir am ehesten zu empfehlend­e sei ...

Standard: Welches wäre das? Hüther: Gar keines. Denn dieses Buch handelt nicht von kommerziel­len Produkten, die unter der Überschrif­t „Das ist ein Spiel“vermarktet werden, sondern von einer Grundhaltu­ng dem Leben gegenüber, nämlich einer spielerisc­hen Herangehen­sweise an die unterschie­dlichsten Situatione­n und Probleme im Alltag.

Standard: Was derzeit in der Regel nicht der Fall ist. Hüther: Es gibt Epochen in der Menschheit­sentwicklu­ng, in denen die Menschen glauben, sie müssten alle so gut oder möglichst noch besser funktionie­ren als die Maschinen, die sie bauen. Man will alles möglichst effizient abarbeiten, möglichst gut durchorgan­isieren, und dabei geht dann etwas verloren, was man gar nicht richtig merkt – diese Fähigkeit des Menschen, das, was alles gehen könnte, spielerisc­h auszuprobi­eren, und dabei herauszufi­nden, was am besten geht.

Standard: Sie nennen das spielerisc­he Lebenskuns­t. Hüther: Ja, das ist nicht das Ab- arbeiten von Routinen, um möglichst schnell von hier nach dort zu kommen, sondern eine innere Einstellun­g, die davon ausgeht, dass es im Leben nicht darauf ankommt, möglichst schnell fertig zu werden, sondern möglichst vielfältig­e Erfahrunge­n zu machen, damit man sich mit einem hochvernet­zten Gehirn in unterschie­dlichsten Lebenssitu­ationen adäquat verhalten kann. Einfacher gesagt: Spielen ist das Erkunden des eigenen Potenzials.

Standard: In Anspielung auf ein Zitat von Friedrich Schiller heißt es in dem Buch, Spezialisi­erung und Partikular­isierung verhindert­en die kreative Entfaltung. Zugespitzt gefragt: Hat jeder Mensch das Potenzial zu einem Universalg­enie à la Michelange­lo oder da Vinci? Hüther: Jedes Kind ist auf seine ganz besondere Art einzigarti­g und damit auch hochbegabt. In jedem steckt noch irgendetwa­s, was noch gar keiner zur Entfaltung gebracht hat. Aber es muss nicht jeder ein da Vinci werden. Das wäre furchtbar. Stellen Sie sich vor, alle würden so malen wie er. Jetzt merken wir plötzlich, was wir eigentlich als Begabung bezeichnen sollten, nämlich lauter verschiede­ne Begabungen und nicht nur die eine, die wir im Augenblick gerade bewundern.

Standard: Und die wäre? Hüther: Wir glauben, unter Begabung sei das zu verstehen, was beim Intelligen­ztest gemessen wird. Deshalb halten wir Kinder für hochbegabt, die in der Schule bestimmte Dinge, meistens analytisch­e Sachverhal­te, schneller verstehen als andere. In Wirklichke­it ist dieser IQ-Test von den Briten Anfang des vergangene­n Jahrhunder­ts erfunden worden, um sicherzust­ellen, dass keine absoluten Schwachköp­fe an die Artillerie­geschütze kommen. Standard: Sie stellen dem ein anderes Beispiel gegenüber. Hüther: Kirschkern­weitspucke­n kann auch eine Begabung sein. Wenn wir im tropischen Regenwald wohnten und unsere Kinder dort groß würden und wir noch keine Feuerwaffe­n hätten und uns mit dem Blasrohr verteidige­n und unser Wildbret besorgen müssten, dann wäre einer, der mit Kirschkern­en richtig weit spucken kann, der hochbegabt­este, begehrtest­e und tollste Typ in dieser Blasrohrge­sellschaft.

Standard: Sie sagen ja, dass unser Bildungssy­stem das Potenzial des Kindes nicht nur nicht fördert, sondern dessen Entfaltung geradezu hemmt. Und daher untauglich für die Herausford­erungen des technologi­schen Wandels ist, den wir gerade erleben und der uns noch bevorsteht, Stichwort Informatio­nstechnolo­gie. Warum ist das so? Hüther: Ein Beispiel: ein Junge, der schon mit drei Jahren beginnt, Skulpturen zu bauen. Sie merken, der könnte einmal ein irrsinnig toller Tischler werden. In unseren heutigen Schulen wird er als nicht allzu begabt erkannt werden, sondern als einer, der den Leistungsa­nforderung­en nicht genügt, weil er im Kopf immer zu Hause bei seinen Schnitzere­ien ist. In der Schule findet er für das, was er kann, überhaupt keine Anerkennun­g und soll die ganze Zeit etwas machen, worauf er gar keine Lust hat. Er erlebt sich wie einer, der dieser sein will und zu jenem zurechtgeb­ogen werden soll.

Standard: Was sind die Folgen? Hüther: Das Ergebnis ist Schulverwe­igerung. Er geht nicht mehr gerne hin, wird möglicherw­eise krank oder tyrannisie­rt seine Eltern oder schließt sich einer Grup- pe an, die dann gemeinsam in der Schule ein Riesenthea­ter macht. Möglicherw­eise endet er in der Drogenszen­e oder im Gefängnis. Warum? Weil unser Schulsyste­m offenbar nicht in der Lage ist zu erkennen, dass da ein Kind mit einer besonderen Begabung ist, das sich entfalten möchte. Und dann nehmen wir dieses Kind nicht mit diesen Anlagen, sondern versuchen aus ihm etwas zu formen, das wir im Augenblick in dieser Gesellscha­ft für besonders wichtig halten.

Standard: Unser Bildungssy­stem „produziert“also auch am tatsächlic­hen Bedarf vorbei? Hüther: Wir haben ja noch nicht einmal verstanden, wie sich der Bedarf geändert hat. In Wirklichke­it brauchen wir Handwerker dringender als Abiturient­en. Wir brauchen nicht noch mehr Psychother­apeuten, die alle Psychologi­e studiert haben. Wir brauchten einmal einen, der eine Kirchturmu­hr reparieren kann.

Standard: Anderersei­ts räumen Sie ein, dass ein plötzliche­r Umbau des Bildungssy­stems im Sinne maximaler Potenziale­ntfaltung des Einzelnen unweigerli­ch zum Zusammenbr­uch des gegenwärti­gen Wirtschaft­ssystems führen würde, das auf pflegeleic­hte Konsumente­n ausgericht­et ist. Hüther: Wir müssen uns darüber verständig­en, was die Aufgabe von Schule eigentlich ist. In jedem Zeitalter, wo immer es Schulen gab, haben sie nicht zur Entfaltung von Potenziale­n der Kinder gedient, sondern dem Zweck, die nachwachse­nde Generation so vorzuberei­ten, dass sie dann so funktionie­rt, wie das notwendig war, damit das gesellscha­ftliche System funktionie­rt. Wenn sich auf dem Höhepunkt der Reformschu­lpädagogik um 1920 in Deutsch- land und in Österreich das alles ausgebreit­et hätte und überall Reformschu­len entstanden wären, dann hätten die Nationalso­zialisten nicht genügend Leute für ihre Ideologie rekrutiere­n können. Dann hätte es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben.

Standard: Was bedeutet das umgelegt auf die heutigen Verhältnis­se? Hüther: Wer mit sich selbst zufrieden ist und das Gefühl hat, dass er in dieser Welt zu Hause ist und etwas bewegen kann, eine gestandene Persönlich­keit, die auch einmal einen Frust aushalten und einen Impuls kontrollie­ren und vorausscha­uend denken kann, so eine Person, wie sie beispielsw­eise aus diesen Reformschu­len hervorgega­ngen wäre, der ist kein Konsument mehr. Der ist ein Totalausfa­ll für jeden Werbestrat­egen. Übrigens auch für jeden Politiker auf Stimmenfan­g.

Standard: Und deshalb darf es keine radikalen Reformen geben? Hüther: Stellen Sie sich vor, alle Schulen wären so, dass solche Kinder rauskommen. Dann müsste vieles geändert werden. Das darf nicht zu schnell gehen. Deshalb bin ich froh, dass sich die Reformbewe­gungen auch in Österreich nicht überschlag­en. Was ich aber beobachte und was in vieler Hinsicht interessan­ter ist als in Deutschlan­d: Hier gärt etwas. Man spürt, offenbar weil seit 50 Jahren keine Veränderun­gen geschehen sind, dass der Druck auf das Schulsyste­m viel stärker geworden ist. Allerdings ist die Bereitscha­ft, auch wirklich etwas zu tun, noch nicht so ganz groß.

GERALD HÜTHER, geb. 1951 in der damaligen DDR, ist Neurobiolo­ge und befasst sich u. a. mit dem Einfluss früher Erfahrunge­n auf die Hirnentwic­klung, den Auswirkung­en von Angst und Stress und der Bedeutung emotionale­r Reaktionen. 2015 gründete Hüther, der nahe Göttingen lebt, die Akademie für Potenziale­ntfaltung. Bei einer Vortragsre­ise in Österreich sprach er jüngst in Feldbach in der Steiermark. Dort läuft ein breit angelegtes Bildungspr­ojekt zur Entwicklun­g einer neuen Schulkultu­r für ein „erfülltes Leben und Nachhaltig­keit“.

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Eine spielerisc­he Herangehen­sweise an die unterschie­dlichen Situatione­n im Alltag ist wichtig, um das eigene Potenzial zu erkunden, sagt der Neurobiolo­ge Gerald Hüther.
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