Von einer engen Haut in Schönheit erwürgt
Ibsens „Gespenster“als Ballett bei Osterklang im Theater an der Wien
Wien – Schön, dass sich das Theater an der Wien dazu entschlossen hat, die aktuelle Ausgabe seines Osterklang-Festivals dem Tanz zu widmen. Auch wenn die Ankündigung, dass Tanz da „in seinen vielfältigsten Facetten“gezeigt wird, diese Schönheit ein bisserl trübt. Es gibt zwar ein nettes Musikprogramm, zwei respektable moderne Ballette und lustigen Kabaretttanz, aber von „vielfältigsten“Facetten ist das halt noch sehr, sehr weit entfernt.
Den Anfang hat am Montag das Norwegische Nationalballett mit einer choreografischen Interpretation von Henrik Ibsens Drama Gespenster (Originaltitel: Gengangere) aus dem Jahr 1881 gemacht. Ghosts, eine Kooperation zwischen der Regisseurin Marit Moum Aune und der Choreogra- fin Cina Espejord mit intensiver, teils jazziger Musik von Nils Petter Molvær, ist die textfreie Vertiefung eines Satzes, den Ibsen seine Helene Alving sagen ließ: „Doch mir scheint fast, wir alle sind Gespenster.“Das Wort „Gengangere“bedeutet im Deutschen „Wiedergänger“und bezeichnet Tote, die wiederkehren, um für zu Lebzeiten erlittenes Unrecht Rache zu nehmen.
In ihrem Ballett geht es Aune und Espejord nicht um die Intrigen und Rankünen der Ibsen’schen Personen, sondern um das Sichtbarmachen dieser Wiedergänger, um den Tanz der in Helene, Osvald, Regine und dem Pastor Manders abgestorbenen Personen. Um das Wiedergängertum jener also, die sie früher einmal gewesen sind. Unzeitgemäß ist das nicht. Auch heute werden Kinder und Jugendliche durch Missbrauch, Täuschung und Vernachlässigung für ihr Leben geschädigt. Nur ist die Bandbreite der Möglichkeiten dafür heute wesentlich größer als in der Enge des 19. Jahrhunderts.
Weil sich psychische Verletzungen mit der eleganten Körperlichkeit des Balletts nur schwer ausdrücken lassen, konzentrieren sich Aune/Espejord auf Abläufe, auf das Ankommen des Unheils und auf das Aufbrechen von Traumata. Die Wiedergänger mischen sich ein oder beobachten in stiller Wut. Als Kinder (Regine und Osvald) hängen sie sich an jene, von denen sie zerstört wurden.
Vor der Kulisse eines fassadenlosen schwarzen Hauses (Even Børsum) scheitert die Verlogenheit und taucht Verdrängtes auf. Dieses Haus steht für das Unbewusste, und es ist mit Ibsens brennendem Kinderasyl verbunden, das im Ballett symbolisch per Video durch riesige Flammen in Schwarz-Weiß auf die Bühnenrückwand projiziert wird. Die Fassaden der Figuren fallen den Flashbacks zum Opfer, die sie aus der Fassung bringen.
Die Enge des Tanzes, der hier ins Spiel gebracht wird, die teils grotesken choreografischen Floskeln entsprechen der Zwanghaftigkeit der Gesellschaft, in der die Handlung eskaliert. Auch das hat seine Entsprechung in der rasanten Kontraktion einer Gegenwartsgesellschaft, die ihre Krise gleichermaßen über neurotische Verbote und Eskapaden zu kompensieren sucht.
Im Tanz mutet die Selbstzersetzung der Gemeinschaft im Haus Alving unheimlicherweise noch perverser an als im Drama. Die beiden Kinder erscheinen von Beginn an geschändet, weil sie ans kalte Licht einer schändlichen, bigotten Erwachsenenwelt gezwungen wurden. Das toxisch Unausgesprochene und Unausgelebte quält sich in ungebrochen schönen Formen dahin, während die Gestalten zunehmend eingehen.
Cina Espejord macht als Ballettchoreografin aus dieser tradierten Tanzform eine Haut, die alle in ihr Gefangenen gnadenlos erstickt. Das Stück könnte in manchen Passagen reduzierter und kühler sein, aber der Tanz darin wird nie tranig oder überexpressiv. Ab Samstag wird die alerte Truppe aus Oslo auch noch die Carmen des Briten Liam Scarlett über die Bühne rauschen lassen. „Carmen“-Termine am 8., 9., 10., 11. 4.