Furcht der Frommen vor Revanche der Säkularen
In der türkischen AKP bereitet manchen bereits Sorge, was nach Erdogan kommt. Ein Säkularer könnte als Präsident folgen. Die Einführung eines Präsidialsystems scheint ihnen deshalb keine allzu gute Idee.
Ankara/Athen – Seine Stimme ist heiser und schrill geworden, und einen Auftritt in der Kurdenstadt Van im Osten des Landes sagte Tayyip Erdogan in letzter Minute ab. Überstrapazierte Stimmbänder sind für den 63-jährigen türkischen Staatspräsidenten, der einen großen Teil seiner täglichen Arbeitszeit für Wahlkampfreden verwendet, ein altbekanntes Problem. „Der Gesundheitszustand von Präsident Erdogan ist außerordentlich gut. Allah möge ihn schützen und unterstützen“, twitterte ein bekannter Kolumnist des Palasts in Ankara und versuchte die Anhängerschaft zu beruhigen. Doch in einem Regime, das so sehr um einen einzelnen Mann kreist, sind selbst entzündete Stimmbänder eine politische Grundsatzfrage.
Als Erdogan Ende 2011 und dann ein zweites Mal im Februar 2012 am Darm operiert wurde, verheimlichte sein Protokollamt, unerfahren in solchen Dingen, erst einmal den Eingriff. Gerüchte über eine Krebserkrankung tauchten sogleich auf. Sehr ernsthaft sei sie, hieß es damals; zwei Jahre gab man dem damaligen Regierungschef noch. Erdogan strafte sie alle Lügen.
Mit der Einführung eines autoritären Präsidialsystems aber, von Erdogan gewünscht und auf seine Person zugeschnitten, gewinnt die Gesundheitsfrage wieder neue Brisanz. Was kommt nach Erdogan? Was, wenn er plötzlich im Amt stirbt? Wer wird dann, von der Verfassung mit solcher Machtfülle ausgestattet, die Türkei führen? Vielleicht, so fragen sich manche im Lager von Erdogans konservativ-sunnitischer AKP, die am Sinn der Verfassungsänderung zweifeln, gar wieder ein stramm säkularer Staatschef – einer wie Ahmet Necdet Sezer, der während seiner Amtszeit bis 2007 der islamistischen Regierung viele Prügel zwischen die Beine warf?
„Unser Präsident ist sterblich“, erklärte dieser Wochen der türki- sche Außenminister Mevlüt Çavuşoglu der Öffentlichkeit. „Wenn sein Leben es zulässt, wird er für maximal zwei Amtszeiten gewählt“, fuhr der Minister fort, bereits das Ja zu den Verfassungsänderungen beim Referendum am 16. April vorwegnehmend. Man müsse das Präsidialsystem deshalb stärken, eine „Versicherung“für die Zeit danach einführen, so sagte Çavuşoglu. An welche Art von Garantien er dabei dachte, sagte Çavuşoglu nicht.
Elif Çakir, eine islamistische Kolumnistin, die diese Post-Erdogan-Debatte angestoßen hatte, präsentierte dafür einen Vorschlag: Die Vollmachten, mit denen Erdogan weitgehend ungehindert von Parlament und Judikative allein regieren könnte, sollten nur für ihn gelten. Scheide Erdogan aus dem Amt, würden sie aufgehoben.
„Tayyip gibt es nicht ewig“
Erdogans jetzige Amtszeit fällt noch unter die Regeln der alten parlamentarischen Verfassung der Türkei: Wird das neue Präsidialsystem durch den Volksentscheid angenommen und tritt es dann in Kraft – bei den nächsten Wahlen 2019 oder früher –, wird der Zähler für Erdogan auf null gestellt. Er könnte bis 2029 regieren oder länger, denn auch die Kandi- datur für eine dritte Amtszeit ist unter bestimmten Bedingungen vorgesehen. Trotzdem ist irgendwann Schluss.
„Tayyip Erdogan gibt es nicht ewig, Tayyip Erdogan ist sterblich“, sagte der Präsident über sich selbst in einer Rede im Februar mit Blick auf die Zweifler im eigenen Lager, die ein Chaos fürchten oder eine machtvolle Revanche der Säkularen für die Zeit nach seiner Herrschaft. „Was wird nach Erdogan kommen?“, fragte Erdogan. Seine Antwort, listig wie staatsmännisch, mag manche seiner frommen Anhänger trösten: „Was das Volk sagt, wird sein. Was Allah sagt, wird sein!“