Der Standard

„Der IS rekrutiert Zentralasi­aten in Russland“

Die Terrormili­z „Islamische­r Staat“rekrutiert Kämpfer bei enttäuscht­en zentralasi­atischen Gastarbeit­ern in Russland, sagt Edward James Lemon, Forscher an der Columbia-Universitä­t. Die Zahlen sind aber gering.

- INTERVIEW: Manuel Escher

STANDARD: Als Sie zuletzt immer wieder hörten, dass islamistis­che Terroriste­n aus den zentralasi­atischen Ländern stammen – waren Sie überrascht? Lemon: Eigentlich schon. Vor allem aus Tadschikis­tan und Kirgisista­n sind relativ wenige Leute zum Kämpfen nach Syrien und in den Irak gezogen. Sie haben auch nicht viel Interesse daran gezeigt, zurückzuke­hren, obwohl Regimes in der Region ziemlich lautstark davor gewarnt haben. Aber es stimmt, dass einige nun bei Anschlägen Führungsro­llen innehatten.

STANDARD: Halten Sie die geschätzte Zahl von 2000 bis 4000 Zentralasi­aten von Stand Ende 2015 für plausibel? Lemon: Ich glaube, dass die Zahlen plausibel sind, sich aber seit der Veröffentl­ichung vor einem Jahr etwas erhöht haben. Ich würde von 3000 bis 5000 ausgehen – inklusiver aller Rückkehrer und Getöteten. Im Verhältnis zur Bevölkerun­g von 70 Millionen in Zentralasi­en sind das keine sehr hohen Zahlen. Aber natürlich reicht auch eine kleine Zahl, um Zerstörung­en anzurichte­n.

STANDARD: Vermuten Sie, dass die Radikalisi­erung zu Hause stattgefun­den hat? Lemon: Ich vermute, die große Mehrheit der Rekrutieru­ngen zu Gruppen wie dem „Islamische­n Staat“oder al-Nusra hat in Russland stattgefun­den. Usbekistan und Tadschikis­tan zählen zu den weltweiten Spitzenrei­tern, was Arbeitsmig­ration betrifft. Mehr als eine Million Bürger beider Staaten leben in Russland, der IS rekrutiert dort gezielt Zentralasi­aten. Das sind meist junge Männer, die weit weg von zu Hause leben, mit niedrigen Löhnen. Das macht sie für Rekrutieru­ngsversuch­e zu leichten Zielen. Auch der Verdächtig­e von St. Petersburg scheint in diese Kategorie zu fallen. Das spielt auch in Rekrutieru­ngsvideos eine Rolle. In denen geht es oft um die Gastarbeit­er-Erfahrung, das Leben unter miesen Wohnbeding­ungen und um schlechte Behandlung.

STANDARD: Es gibt aber auch einheimisc­he radikale Bewegungen. Lemon: Die gibt es. Die Islamische Bewegung Usbekistan­s war seit den 1990ern die größte Gruppe, die aus Zentralasi­en stammt. In den vergangene­n Jahren ging es vor allem um Kämpfer aus Syrien und dem Irak. Und da waren der IS und al-Nusra die attraktivs­ten Organisati­onen für die Bürger zentralasi­atischer Staaten.

STANDARD: Sind die Regierunge­n auf die Rückkehrer vorbereite­t? Lemon: Die Regierung von Tadschikis­tan hat Rückkehrer­n eine Amnestie versproche­n, wenn sie etwa Schüler über die hässliche Realität in Syrien und dem Irak aufklären. Es gibt also einen Mechanismu­s, um einige der freiwillig­en Rückkehrer zu integriere­n. Aber für jene, die zurückkehr­en, um dann zu Hause Anschläge auszuführe­n, gibt es kaum Ansätze. STANDARD: Den zentralasi­atischen Staaten wird vorgeworfe­n, dass sie die Terrorbedr­ohung als Vorwand für eine härtere Hand gegen die Opposition verwenden. Lemon: Schon in der UdSSR haben Staaten Wahhabismu­s und den radikalen Islam als einen Vorwand benützt, um ihre autoritäre Regierung zu legitimier­en. Sie brandmarkt­en verschiede­ne Opposition­sgruppen als Radikale, auch wenn diese es nicht waren. Heute ist es so, dass die meisten Zentralasi­aten zwar Muslime sind, aber mit einer sehr säkularen Weltsicht. Tadschikis­tan erlässt Gesetze gegen Hijab und Bärte.

STANDARD: Es heißt, die Religionsa­uslegung sei in den vergangene­n Jahren konservati­ver geworden. Lemon: Das ist sicher wahr. Und das Vorgehen der Regierung dagegen hat viele Leute irritiert. Das sind nicht immer politische Menschen, in vielen Fällen geht es um persönlich­e Spirituali­tät. Die meisten, die nach Syrien und in den Irak gegangen sind, waren hingegen nicht besonders religiös.

STANDARD: Russland versucht mit dem Argument der Radikalisi­erung Sicherheit­szusammena­rbeit auszubauen. Wird das zunehmen? Lemon: Russland war sicher das Land, das am stärksten Sorge ausgedrück­t hat. Die alarmistis­chsten Berichte über Zentralasi­en kamen von russischen Medien. Und die Regierung hat ein offensicht­liches Interesse. Russland nutzt die Bedrohung schon lange auch als Argument dafür.

EDWARD JAMES LEMON (29) ist Wissenscha­fter am Harriman Institute der Columbia University, New York. Er ist Experte für die zentralasi­atische Region.

 ??  ?? Russisch-kirgisisch­e Antiterror­übung 2013. Hinter Moskaus Sorge steckt auch geopolitis­ches Kalkül, sagt Edward James Lemon.
Russisch-kirgisisch­e Antiterror­übung 2013. Hinter Moskaus Sorge steckt auch geopolitis­ches Kalkül, sagt Edward James Lemon.
 ?? Foto: privat ?? Forscher Lemon: Nur wenige neigen zu Extremismu­s.
Foto: privat Forscher Lemon: Nur wenige neigen zu Extremismu­s.

Newspapers in German

Newspapers from Austria