„Unrecht bleibt immer bestehen“
Die Arbeit als Chef des Antragskomitees für die Entschädigung von NS-Opfern ist getan: Sir Franklin Berman über moralische Pflicht, Enttäuschungen und warum es keinen historischen Schlussstrich geben darf.
Wir hatten die Möglichkeit, den Menschen zu helfen und ihnen ihre Geschichte zurückzugeben. Sir Franklin Berman
STANDARD: Sie haben das Antragskomitee des Entschädigungsfonds für NS-Opfer geleitet, das über Zahlungen entschieden hat. Jetzt ist Ihre Arbeit abgeschlossen, wie lautet Ihre persönliche Bilanz? Berman: Es ist schwierig, das in einem Satz zusammenzufassen. Klar ist: Unrecht bleibt immer bestehen, selbst in dem Moment, wo man versucht, es gutzumachen. Es bleibt ein Teil unseres Wesens. Dennoch muss man es bekämpfen und sich dafür verantworten.
STANDARD: Der Fonds wurde erst im Jahr 2001 eingesetzt – für viele Opfer kam das viel zu spät. Berman: Es war als Geste konzipiert. Es war eine Geste der Anerkennung. Die Antragsstellung war für manche Opfer ein Mittel, sich mit Österreich zu versöhnen. Anderen war das so unangenehm, dass sie keinen Antrag stellen wollten, obwohl sie dazu berechtigt gewesen wären. Jede Frage hat zumindest zwei Seiten: Hier mussten wir uns mit vergangenem, grobem Unrecht befassen und es aber auch juristisch bewerten – das war die abstrakte Seite. Die moralische Verpflichtung Österreichs war im Washingtoner Abkommen festgeschrieben, das war Ziel und Zweck.
STANDARD: Die moralische Aufarbeitung ist keine einfache Aufgabe gewesen, wie Sie selbst gesagt haben. Ist es damit abgeschlossen? Berman: Formal schon, aber ein Wiedergutmachen der Vergangenheit ist nie abgeschlossen. Es bleibt Teil der Geschichte Österreichs, weil es mit menschlichem Verbrechen zu tun hat. Auch in Zukunft müssen sich jüngere Generationen damit befassen. STANDARD: Besteht die Gefahr, dass auch historisch ein Schlussstrich gezogen wird? Berman: Nein, es darf nie von einem Schlussstrich gesprochen werden – auch nicht von einem Erfolg. Man kann nur versuchen, Niederträchtiges gutzumachen, aber das Wegstreichen gelingt nie. Es bleibt im Gedächtnis der Menschheit.
STANDARD: Für viele Opfer war es eine emotionale Angelegenheit, schließlich mussten sie eine Verzichtserklärung unterschreiben. Berman: Das war eine rechtliche Notwendigkeit. Es ist und bleibt aber ein schwerer Schritt, auf alle weiteren Rechtsansprüche zu verzichten. Damit stellt sich auch die Frage, ob die Auszahlungssumme ausreichend war. Das war sie natürlich nicht. Wir hatten 210 Millionen US-Dollar im Fonds zur Verfügung, waren aber mit Verlusten von 1,6 Milliarden Dollar konfrontiert. Natürlich ist das dann auch eine Enttäuschung, selbst wenn das nicht in der Verantwortung des Komitees lag.
STANDARD: War der Fonds also viel zu niedrig angesetzt? Berman: Das kann ich nicht beurteilen, das war Teil der Verhandlungen zwischen der österreichischen Regierung, den USA und den Opfergruppen.
STANDARD: Die damalige schwarzblaue Regierung wurde im In- und Ausland massiv kritisiert. Gab es Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Vorhabens? Berman: Die Politik spielte bei uns gar keine Rolle. Es gab keinen politischen Druck. Im Gegenteil, es gab sehr bedeutende Unterstützung vom Parlament, das schon zweimal eine Novellierung des Gesetzes beschlossen hat. Durch die erste wurde eine Vorauszahlung möglich, durch die zweite konnte mit den Endauszahlungen begonnen werden. Sonst hätten die Opfer auf die Bearbeitung aller Akten warten müssen.
STANDARD: Läuft man nicht Gefahr, den Menschen aus dem Auge zu verlieren, wenn ständig nur mit Anträgen und Zahlen hantiert wird? Berman: Bei jedem Einzelfall wurde die Geschichte dahinter sorgfältig geprüft. In den meisten Fällen wurden berufs- und ausbildungsbezogene Verluste zugesprochen. Und die sind eng mit dem Schicksal des Individuums verbunden. Fall für Fall haben wir so die persönlichen Einzelheiten eingesehen – von den Überlebenden, die etwa in den Osten, nach Russland oder nach Schanghai geflohen sind. Es sind ganz tragische Geschichten.
STANDARD: Es muss fast eine detektivische Arbeit gewesen sein, viele Antragsteller verfügten ja nicht über all die notwendigen Dokumente. Wie sind Sie vorgegangen? Berman: Wir haben ein standardisiertes Verfahren angewendet, um bei jedem Antragssteller die glei- chen Dinge zu prüfen. Glücklicherweise hat uns der Gesetzgeber einen weiten Spielraum offengelassen. Man spricht dort von erleichterten Beweisstandards. Und es gab auch das Billigkeitsverfahren, wo wir noch weniger Beweismittel verlangt haben. Bei Kunstgegenständen oder bei Fällen „extremer Ungerechtigkeit“gab es spezielle Recherchen.
Standard: Was waren Fälle „extremer Ungerechtigkeit“? Berman: Grundsätzlich wurden auch immer die bereits erfolgten, vorangegangenen österreichischen Restitutions- und Entschädigungsmaßnahmen berücksichtigt. Wenn eine dieser früheren Entscheidungen als „extrem ungerecht“befunden wurde, konnten solche Fälle doch für eine Entschädigung anerkannt werden. Das ist natürlich eine delikate Angelegenheit.
STANDARD: Wie wurde über die Entschädigungssumme entschieden? Berman: Die Bewertung ist bei jedem Massenklagenverfahren tatsächlich ein sehr großes Problem. Manche konnten ihren Verlust sehr genau bewerten, ging das nicht, kamen Allgemeinregeln zur Anwendung. Das war sehr sorgfältig statistisch ausgearbeitet worden, damit man einen Pauschalwert zu jeder Art von Forderung angeben konnte. Das hat auch unsere Arbeit wohl erst erleichtert und auch beschleunigt.
Standard: Aber wie hätte zum Beispiel ein über 80-Jähriger, der in Südamerika lebt, alle Dokumente heranschaffen können? Berman: Er musste nichts beweisen, weil wir recherchiert haben. Wir hatten so die Möglichkeit, den Menschen zu helfen und ihnen ihre Geschichte zurückzugeben. Das ist meines Erachtens völlig neu in der ganzen Geschichte der Massenklagen: eine von Amtswegen vorgenommene Ausweitung. Das heißt, wir konnten manchen Antragstellern sagen, dass ihre Forderungen eigentlich größer sind als beantragt. Warum? Weil die Mitarbeiter des Entschädigungsfonds jedem Antrag nachgegangen sind, und da tauchte oft Neues auf. Das war eine sehr erfreuliche Sache. Nur in einem Bereich haben wir tatsächlich auf Beweise bestanden: bei der Erbfrage. Hier mussten die Antragsteller beweisen, erbberechtigt zu sein, hier mussten auch viele nationale Erbrechte berücksichtigt werden, es kamen Anträge aus mehr als 70 Ländern der Welt.
STANDARD: Auffallend ist, dass das Komitee mehr als 90 Prozent der Anträge in der Kategorie Immobilien zurückgewiesen hat. Warum? Berman: Das hat sich als Problembereich herausgestellt. Mancher glaubte, dass es eine Immobilie in der Familie gegeben hatte. Aber damit lagen viele falsch, weil es sich oft um Miet- und nicht um Eigentumswohnungen gehandelt hatte. Sie müssen aber bedenken: In den USA, in Großbritannien oder Australien ist es üblich, Eigentümer seiner Wohnung zu sein. Außerdem gibt es das Grundbuch, deshalb war der Besitz von Liegenschaften leicht nachweisbar. Ein überwiegender Teil wurde daher schon nach dem Krieg zurückgegeben. Weil aber auch Immobilien durch einvernehmliche Regelungen zu billig ausgehandelt worden waren, kam die Feststellung der „extremen Ungerechtigkeit“zur Anwendung. Da war mancher Handel schlicht Unrecht. Das haben wir sorgfältig geprüft und in berechtigten Fällen eine Möglichkeit der Entschädigungsleistung gefunden.
SIR FRANKLIN BERMAN (77) ist britischer Jurist und Diplomat. Er leitete das Antragskomitee des Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus. Berman ist Richter bei internationalen Schiedsgerichtsverfahren und als Professor für Völkerrechte in Oxford, am King’s College und in Capetown tätig.