Die Kunst, ein ganzes Universum zu spielen
Im seltsamen philosophischen „Everything“schlüpfen Spieler in die Rolle von allem: vom Staubkorn bis zur Supernova – ein Test
Wien – Ich bin ein Bakterium in einer Pfütze. Rund um mich herum schwimmen Blumenpollen, Staubkörner, mikroskopisch kleine Pflanzen. Ein Tastendruck, und ich bin ein etwas größerer Kieselstein, der herumrollt, ein weiterer, und ich bin ein Frosch. Dann ein Hase, der aus der Pfütze trinkt. Ein Hirsch. Eine Palme, die sich im Wind wiegt. Ein Adler, zwei, drei, vier. Vom Schwarm werde ich zum Berg, vom Berg zum Kontinent, schließlich zum Planeten, der eine Sonne umkreist. In Everything können Spieler alles sein, von subatomaren Partikeln über Tiere, Planeten bis hin zum gesamten Kosmos. Everything ist in seiner Art ein einzig- artiges Spiel. Erdacht und verwirklicht wurde es vom irischen Künstler David OReilly, der sich als 3-D-Artist auch in Hollywood einen Namen gemacht hat, bevor er im Medium Videospiele gelandet ist.
Schon sein seltsames, philosophisch-absurdes Quasi-Tamagotchi Mountain begrüßte 2014 Spieler mit der überraschenden Ansage „You Are Mountain“und bestand im Grunde nur darin, einem Berg beim Existieren und Philosophieren zuzusehen. Everything ist weit ambitionierter und schafft es, trotz seines Anspruchs, ein Kunstwerk zu sein, auch als Spiel zu funktionieren.
Dabei bietet Everything eigentlich wenig, was man als klassische Spielmechaniken beschrei- ben würde. Alle Wesensformen, vom Atom bis zur Sonne, lassen sich bewegen, wenn man andere Objekte derselben Art findet, darf man sich begrüßen, zur Gruppe zusammenschließen und tanzen. Per Tastendruck nimmt man von fast jedem anderen beliebigen Objekt, ob Lebewesen oder Gegenstand, Besitz. Beim Wandern durch diese prozedural generierte Welt – oder aber: in sie hinein, bis ins Kleinste, oder heraus, bis ins Größte – lassen sich Gedanken anderer Objekte aufschnappen. Diese reichen von banalen Alltäglichkeiten über persönliche Beobachtungen bis hin zu intimen Offenbarungen.
Absurdität und tiefer Ernst
Ab und zu finden sich auch kurze Tonausschnitte aus Vorlesungen des englischen Philosophen Alan Watts, in denen das Grundthema von Everything behandelt wird – die Untrennbarkeit aller Dinge, die Illusionshaftigkeit des vereinzelten Daseins und die Verbindung, die jede Existenz durchdringt. Klingt schwurbelig? Keine Angst: Sowohl Watts’ zugängliche Argumentation (gutes Englisch vorausgesetzt) als auch der bizarre Humor des Spiels selbst lassen diese Wanderung mit philosophischem Gepäck nie zum belehrenden oder esoterischen Frontalvortrag werden, sondern verbinden sich zu etwas sehr Besonderem: einer jederzeit zugänglichen Me- ditation in Spielform, in der das eigene Spielen, der eigene Weg, fast unmerklich zum Nachdenken über die eigene Existenz führt.
Damit schafft OReilly etwas, das es zuvor noch nicht gegeben hat: einen interaktiven philosophischen Spielplatz, der sein Thema nicht nur behandelt, sondern humorvoll und in tausendfacher Form demonstriert. Dass Everything wider erste Vermutung und sein offenes Konzept auch eine Art Dramaturgie mitbringt, die es Schritt für Schritt persönlicher und damit auch berührender werden lässt, ist ein Kunststück, das beachtlich ist; den Berichten mancher Spieler sowie Rezensenten, dass sie Everything zu Tränen gerührt und ganz persönlich berührt habe, darf deswegen absolut Glauben geschenkt werden.
Denn es geht Everything nicht nur um eine theoretische Demonstration einer schwammigen „Alles ist verbunden“-Esoterik, sondern auch und vor allem um Individuen, heruntergebrochen bis aufs Pollenkorn. Die Art und Weise, wie sich das handfeste tägliche Leben und Denken der meisten Menschen in kleinsten Details hier wiederfindet, ist jener fernöstlichen Tradition geschuldet, die auch Alan Watts’ Philosophie bestimmt – nur dass hier all die absichtlich dunklen und abschreckenden Weisheiten aus Zen und Taoismus nicht in bedeu- tungsschwangeres Raunen verpackt sind, sondern etwa in die Gedanken einer am Boden eines pinken Planeten umherrollenden Packung Milch.
Ist das noch ein Spiel?
Wer sich auf das bis hierher Gesagte keinen Reim machen kann, sei getröstet: Die Erfahrung, dieses kleine, große Ausnahmespiel selbst zu erleben, kann und soll ein Text darüber gar nicht vorwegnehmen. Das Schöne an Everything ist überdies, dass es, selbst wenn man seiner Philosophie nicht folgen mag, auch als ästhetische Erfahrung absolut gelungen ist.
Zum Klang des stimmungsvollen Soundtracks mit einem Schwarm von Seeadlern einem Sonnenuntergang über der Wüste entgegenzufliegen, als Gruppe von Pollenkörnern vor der majestätischen Größe eines Flusskrebses zu tanzen oder aber als Wäldchen von Affenbrotbäumen die Plätze einer Stadt zu bepflanzen – das sind spielerische Erlebnisse, die schlichtweg kein anderes Spiel angedacht hätte.
Die Frage, ob „das noch ein Spiel“ist, verblasst angesichts der umwerfenden Seltsamkeit, die dieses Unikat seinen Besuchern anzubieten hat. Everything ist ein Spiel, über das man vielleicht noch in Jahrzehnten rätseln und diskutieren wird. Zumindest wer Interesse an außergewöhnlichen Ideen im Medium Videospiele hat, kommt an David OReillys jüngster Schöpfung nicht mehr vorbei.