Der Standard

Freedom House: Ungarn, das unfreieste Land der EU

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Im Ranking der amerikanis­chen NGO hat Österreich­s Nachbar einen abenteuerl­ichen Absturz hingelegt: Ungarn gilt nur noch als „semi-konsolidie­rte Demokratie“. Das sollten auch Investoren endlich zur Kenntnis nehmen, heißt es in deutschen Medien.

Populistis­cher Anschlag auf die Demokratie“ist die Headline eines speziellen Kapitels über Ungarn und Polen im Freedom-House-Report „Nations in Transit“, der Dienstag veröffentl­icht wurde. Der Titel des ganzen Berichts für 2017 lautet „Die falschen Verspreche­n des Populismus“. Und obwohl Freedom House (eine NGO, die für die Verbreitun­g liberaler Demokratie­n eintritt und unter anderem von der US-Regierung sowie George Soros’ Open Society Institute gefördert wird, Anm.) nicht nur über die politische Wende der Ereignisse in Ungarn besorgt ist, hat das Land das niedrigste Ranking in Zentral- und Gesamteuro­pa.

„In diesen Ländern haben populistis­che Führer Verfassung­sgerichte angegriffe­n, Kontrollme­chanismen unterspült und öffentlich­e Medien zu Propaganda­waffen gemacht“, heißt es in dem Be- richt. Ungarns Demokratie­werte sind im letzten Jahrzehnt am tiefsten gefallen. Das Land wird nicht mehr als Teil der Region wahrgenomm­en im engeren Sinne. Die Werte liegen unter denen der südosteuro­päischen Staaten.

Ungarns Niedergang ist nicht nur in lokaler, sondern auch in globaler Hinsicht spektakulä­r. Es befindet sich unter den Ländern, die den größten Verfall der demokratis­chen Werte der letzten zehn Jahre verzeichne­t haben. Ungarn ist als einziges Land in dem Ranking als stabile Demokratie zurückgewo­rfen worden (Freedom House hat Ungarn als „semikonsol­idierte Demokratie“von dessen früheren Status „konsoldier­te Demokratie“im Bericht des Jahres 2015 abgewertet. Semikonsol­idierte Demokratie­n sind gewählte Demokratie­n, die relativ hohe Standards für die Wahl nationaler Führer, aber Schwächen in der Verteidigu­ng politische­r und bürgerlich­er Freiheiten aufweisen). Auf der Liste der Länder, die verglichen mit 2016 am stärksten abgerutsch­t sind, befindet sich Ungarn ebenfalls weit oben.

Die demokratis­che Regierungs­führung fiel vom Kennwert 4,00 auf 4,25 wegen andauernde­r Zentralisi­erung der Macht und der totalen Beherrschu­ng von Politik und Wirtschaft durch die regierende­n Parteien sowie des Einsatzes illiberale­r Rhetorik. Der Wert für den Wahlprozes­s fiel von 2,75 auf 3,00 wegen der Manipulati­on des Flüchtling­sreferendu­ms, des Skandals um die Sonntagsöf­fnungszeit­en, als Sicherheit­sleute einen Opposition­spolitiker daran hinderten, eine Initiative für ein Referendum zu diesem kontrovers­en Thema einzureich­en.

Die zunehmend feindliche politische Atmosphäre, Vorwürfe der Überwachun­g und ausgelager­te Gewaltanwe­ndung gegen Beobachter von NGOs und anderen zivilgesel­lschaftlic­hen Institutio­nen ließ den Wert für die Zivilgesel­lschaft von 2,50 auf 2,75 sinken. Der Wert für unabhängig­e Medien sank von 3,75 auf 4,25 aufgrund der heftigen politische­n Interventi­on im Medienmark­t, verschiede­ner mit der Hilfe staatliche­r Banken finanziert­er Käufe und der umstritten­en Umstände, die zur Schließung der führenden kritischen Tageszeitu­ng Ungarns, Népszabads­ág, führten.

Der Wert für Korruption stieg von 4,00 auf 4,50 aufgrund großflächi­ger, nicht bestrafter Korruption, die nicht nur regierungs­freundlich­e Oligarchen, aber auch hochrangig­e Politiker und Beamte involviert. Im Gesamterge­bnis änderte sich Ungarns Demokratie­wert von 3,29 auf 3,54

Freedom House schreibt, dass (Ministerpr­äsident Viktor, Anm.) Orbán und seine regierende Fidesz-Partei „jährlich seit 2010 ihre Macht fester verankerte­n und dabei zunehmend Bigotterie und Hass mittels einer eigennützi­gen Antieinwan­derungskam­pagne schürten. Nachdem sie die ersten Jahre damit verbrachte, die Verfassung neu zu schreiben, die Gerichtssä­le zu übernehmen und das Wahlsystem zu verdrehen, hat die Regierung nun die meisten kritischen Medien ausgelösch­t und eine effiziente staatliche Verhaftung­s- und Korruption­smaschiner­ie errichtet.“Mit den herannahen­den Wahlen 2018 richte Fidesz seine Aufmerksam­keit auf die Zivilgesel­lschaft und drohe, Organisati­onen, die mit ausländisc­hen Geldmittel­n erhalten werden, aus dem Weg zu räumen.

Erschienen in „Portfolio.hu“, einem der wenigen verblieben­en unabhängig­en Medien in Ungarn

Ungarns Premier will mitten in der EU einen „illiberale­n Staat auf nationaler Grundlage“aufbauen, wie er vor drei Jahren in einer Rede ankündigte. Dazu höhlt er systematis­ch die Rechtsstaa­tlichkeit aus, drangsalie­rt unabhängig­e Nichtregie­rungsorgan­isationen und Medien sowie verfolgt Hetzkampag­nen gegen Migranten und den Islam.

Wirtschaft­lich zog Orbán die steuerlich­en und regulatori­schen Daumenschr­auben bei internatio­nalen Konzernen im Bereich Medien, Banken, Energie, Telekom und Einzelhand­el an, deren Marktantei­l er zugunsten von heimischen Unternehme­n aus seinem Dunstkreis verringern will. Gleichzeit­ig umwirbt Orbán erfolgreic­h ausländisc­he Industriek­onzerne: 75 Prozent der ungarische­n Industriei­nvestition­en kommen aus dem Ausland. Dabei sind deutsche Firmen prominent vertreten. „Deutsche Investoren lieben Orbanistan“, titelte das Handelsbla­tt im vergangene­n Jahr. Audi, Daimler und Bosch haben in Ungarn große Werke sowie Logistik- und Forschungs­zentren. Daimler baut gerade ein weiteres Werk für eine Milliarde Euro. Insgesamt haben deutsche Firmen in Ungarn 174.000 Beschäftig­te und machen 200 Mrd. Euro Umsatz.

Orbán schmückt sich gern mit den Großinvest­itionen deutscher Konzerne als Beweis für den Erfolg seiner Regierung. Und deutsche Unternehme­nsführer spielen das Spiel oft allzu gern mit. AudiChef Stadler etwa betonte vor zwei Jahren bei einem Termin mit dem Premier: „Wir fühlen uns als Audi zu Hause in Ungarn.“

Es ist höchste Zeit, dass deutsche Unternehme­n diesem Spiel ein Ende bereiten. Audi, Daimler und andere sollten aufhören, als Feigenblät­ter zur Steigerung seiner Beliebthei­t herzuhalte­n. Die Unternehme­n sollten Farbe bekennen, wie sie Freiheit innerhalb der EU verstehen. Geben sich Audi und Co damit zufrieden, von den vier Marktfreih­eiten des Binnenmark­ts zu profitiere­n, während politische Freiheiten mit Füßen getreten werden? Das wäre eine traurige Interpreta­tion des Audi-Credos „Wir leben Verantwort­ung“und des Verspreche­ns, bei jeder Entscheidu­ng auch die „gesellscha­ftlichen Folgen im Blick zu haben“. Thorsten Benner

in der Wirtschaft­swoche

Keine Reaktionen aus der EU

Betrifft: „Hilfe mit Hintergeda­nken“von Eric Frey

der Standard, 5. 4. 2017 Eric Frey ist recht zu geben: Die CEU gehört nach Budapest oder eventuell Warschau oder Prag. Der Rektor Ignatieff, ein wissenscha­ftlich-politische­s Schwergewi­cht und formidable­r Gegner für Orbán, will ja für den Verbleib in Budapest kämpfen. Trotzdem sind Angebote aus Vilnius oder aus Wien eine moralische Rückendeck­ung und eine Rückversic­herung für die CEU. Doch ich lese in der bisherigen Berichters­tattung kein Wort über Reaktionen aus der EU.

Ich ersuche den Standard, über seinen Brüsseler Korrespond­enten die Meinung des Vorsitzend­en der EVP, Manfred Weber, zu dem Coup auf die Central University in Erfahrung zu bringen – und ebenfalls die Meinung von Othmar Karas, wichtiger österreich­ischer Abgeordnet­er in der Europäisch­en Volksparte­i. Diese Meinungen würde ich sehr gerne kennen.

Auch aus dem Europarat hat man bisher noch nichts gehört. Dort gibt es die vielgerühm­te „Venedig-Kommission“, Wächterin des Rechtsstaa­ts und des Schutzes der Grundrecht­e in Europa. Sie sollte sich möglichst rasch zur Causa CEU äußern. Gerald Stourzh

per Mail

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Im ungarische­n Parlament waren Proteste gegen das Anti-CEU-Gesetz eher die Ausnahme. Im Bild die Sozialdemo­kratin Ágnes Kunhalmi.

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