KOPF DES TAGES
Ein islamistischer Psychiater mit liberaler Tendenz
Rationalist, Wissenschafter und religiöser Rechtsgelehrter: Der neue marokkanische Regierungschef Saad Eddine El Othmani bringt all dies unter einen Hut. Der 61jährige Sohn einer einflussreichen Berberfamilie aus Inezgane, einer südmarokkanischen Kleinstadt unweit von Agadir, ist die Nummer zwei der stärksten Partei Marokkos, der islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD). Neben Medizin studierte er Psychiatrie und islamisches Recht. Schon in jungen Jahren interessierte er sich für Politik. Als Gymnasiast und Student verschlang er die Schriften der Gründer der Muslimbrüder in Ägypten.
Bald schon schloss er sich unterschiedlichen illegalen islamistischen Gruppierungen an. 1981, nach den Revolten infolge von Brotpreiserhöhungen, verbrachte er mehrere Wochen im Gefängnis. Schließlich gehörte er Ende der 1990er-Jahre zu den Islamisten, die den Weg in die Legalität suchten. Eine Reihe religiös-politischer Gruppierungen trat in die Volksbewegung für konstitutionelle Demokratie (MPCD), die Partei eines der Helden der marokkanischen Unabhängigkeit (Abdelkrim Al Khatib), ein. 1997 wurde El Othmani erstmals ins Parlament gewählt. Aus der MPCD wurde die heu- tige Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung. El Othmani wurde zuerst Vizegeneralsekretär und 2004 schließlich Generalsekretär. 2007, nach verpatzten Wahlen, verwies ihn sein Weggefährte und späterer Ministerpräsident Abdelilah Benkirane auf Platz zwei in der Parteihierarchie. Benkirane gewann 2011 die Wahlen. El Othmani, der 2010 und 2011 Vizepräsident des marokkanischen Parlaments war, wurde für zwei Jahre (2012–2013) sein Außenminister. Seit 2002 sitzt er im Beraterstab der Maghreb-Union.
Der verheiratete Vater dreier Kinder hat mehrere medizinische Fachbücher veröffentlicht. Außerdem schrieb er einige Werke über islamisches Recht und stand mehreren Redaktionen islamistischer Zeitschriften und einem Verlag vor.
El Othmani gilt vielen als der liberalste unter den PJD-Führern. So befürwortet er die Legalisierung von Cannabis und – in bestimmten Fällen – das Recht auf Abtreibung. Genau dieser Ruf des moderaten und toleranten Islamisten war es wohl, der König Mohammed VI. dazu veranlasste, El Othmani mit der Regierungsbildung zu beauftragen, nachdem die möglichen Koalitionspartner den bisherigen Ministerpräsidenten, den populären Benkirane, hatten scheitern lassen.