Der Standard

Versorgung: Die Angst vor der Veränderun­g

Das österreich­ische Gesundheit­ssystem braucht neue Versorgung­smodelle im niedergela­ssenen Bereich, sind sich Gesundheit­sexperten einig. Den Reformen im Weg steht die Angst vor Veränderun­gen – sowohl bei Patienten als auch bei Medizinern.

- Bernadette Redl

Wien – Angst: Kaum ein anderes Gefühl ist stärker mit der Sorge um Gesundheit verbunden. Dahinter steht meist die Furcht des Einzelnen, eines Tages nicht mehr in guter Gesundheit zu leben, sondern in Krankheit leben zu müssen. Davon abgesehen spielt Angst auch eine wesentlich­e Rolle im Gesundheit­ssystem, vor allem wenn es um Veränderun­gen geht. „Gesundheit im Wandel“war der Titel einer einer Diskussion­sveranstal­tung im Hauptverba­nd der Sozialvers­icherungen, es wurde über neue Versorgung­smodelle für die Zukunft diskutiert.

Zentrales Thema: Veränderun­g. Österreich­s Gesundheit­ssystem muss sich verändern, darüber waren sich Diskutante­n auf dem Podium einig. Die Herausford­erungen: Die Menschen werden immer älter, leiden häufiger an chronische­n Krankheite­n wie Diabetes und Krebs. „Wir müssen uns neu aufstellen und brauchen neue Versorgung­sformen“, meinte dazu die Vorsitzend­e des Hauptverba­nds, Ulrika Rabmer-Koller.

Eines dieser zukunftstr­ächtigen Versorgung­smodelle sind die sogenannte­n Primärvers­orgungszen­tren. Sie sollen Spitäler entlas- ten und einen Großteil der Patienten im niedergela­ssenen Bereich betreuen.

Wie ein solches Zentrum aussieht, wusste Wolfgang Hockl zu berichten. Der Allgemeinm­ediziner aus Enns in Oberösterr­eich ist Initiator und Geschäftsf­ührer des Gesundheit­szentrums Enns, des ersten „richtigen“PrimaryHea­lth-Care-(PHC-)Zentrums Österreich­s. Vertreter verschiede­ner Gesundheit­sberufe arbeiten dort auf 800 Quadratmet­ern zusammen. Sechs Ärzte, drei Diplomkran­kenschwest­ern, Ordination­sassistent­innen, ein Psychologe, Physiother­apeuten und Teilzeitkr­äfte aus den Bereichen Logopädie, Geburtshil­fe, Diätologie, Ergotherap­ie und Sozialarbe­it decken so ziemlich alles ab, was Patienten brauchen. Ein Manager kümmert sich um Organisato­risches. Geöffnet hat das Zentrum täglich von sieben bis 19 Uhr, an zwei Tagen in der Woche bis 21 Uhr und auch teilweise am Wochenende.

Mehrwert für alle

„Ein solches Modell bringt einen Mehrwert für alle. Patienten werden umfassend betreut, Prävention und Gesundheit­skompetenz stehen im Mittelpunk­t“, sagt Rabmer-Koller. Hockl betont die Vorteile für Ärzte: „Im Team können wir uns gegenseiti­g entlasten und etwa individuel­l einen Urlaub planen, ohne dass die Ordination zusperren muss – das steigert die Lebensqual­ität und die Arbeitszuf­riedenheit der Mitarbeite­r, es gibt außerdem gemeinsame Entscheidu­ngsfindung, und wir lernen voneinande­r.“

Für den Generaldir­ektor der Niederöste­rreichisch­en Gebietskra­nkenkasse Jan Pazourek ist das PHC-Zentrum ein Modell, das genau den Nerv der Zeit trifft. „Junge Ärzte wollen keine Kleinunter­nehmer sein und sich fix an einem Ort niederlass­en, sie wollen flexibel sein, auch die Option haben, in fünf Jahren vielleicht nach Burkina Faso zu gehen“, sagt er. Maria Wendler von der Plattform „Junge Allgemeinm­ediziner Österreich“stimmt ihm zu: „Das schöne am Beruf des Allgemeinm­ediziners ist, dass man nahe am Patienten ist, ihn über eine lange Zeit betreut, ihn gut kennt und dadurch auch beurteilen kann, warum jemand krank ist.“Prinzipiel­l sei das ein Beruf, der nach wie vor vielen jungen Ärzten zusage, „doch es braucht andere Arbeitsmod­elle“, so Wendler.

Die Forderung nach einer Veränderun­g gibt es in der Ärzteschaf­t schon lange, weiß Clemens Auer, Sektionsch­ef im Gesundheit­sministeri­um. „Schon vor Jahren hat ein Allgemeinm­ediziner zu mir gesagt: ‚ Du weißt ja gar nicht, wie einsam ich bin, weil ich niemanden habe, mit dem ich mich besprechen kann.‘“Auer glaubt, dass Trägheit in der Sozialvers­icherung selbst und die Trägheit in der Ärztekamme­r dringend notwendige Veränderun­gen bremsen. Hier sei wieder die Angst am Werk. Denn die Ärztekamme­r befürchtet, dass durch die Einführung von PHC-Zentren der Hausarzt abgeschaff­t würde. RabmerKoll­er beruhigt: „Wir schaffen nicht ab, sondern stärken den Beruf.“Hockl erzählt aus der Praxis: „Neben dem PHC in Enns gibt es einen Arzt in einer Einzelordi­nation, das funktionie­rt gut.“

Groll und Angst

Doch Hockl verschweig­t auch die Herausford­erungen. Der Aufbau des Zentrums in Enns, neben seinem regulären Job als Allgemeinm­ediziner, hat viel Zeit und Nerven gekostet. „Die finanziell­e Belastung war hoch, und wir hatten mit Ressentime­nts aus der Bevölkerun­g zu kämpfen“, erzählt er, denn auch dort fürchte man um den Hausarzt. „Dabei verschwind­et der ja nicht als persönlich­er Ansprechpa­rtner. Man kann nach wie vor zu ihm gehen, mit dem Vorteil, dass es eine Vertretung gibt, wenn der eigene Arzt einmal nicht da ist“, beruhigt Hockl.

Primärvers­orgung muss übrigens nicht in Zentren organisier­t sein, sondern lässt sich durchaus auch in Netzwerken umsetzen, glaubt man im Hauptverba­nd. „Wir wollen die Kooperatio­nen zwischen Ärzten in Einzelprax­en fördern“, sagte Rabmer-Koller und betonte, dass hier flexible, auf regionale Bedürfniss­e angepasste Lösungen gefunden werden müssen.

Sektionsch­ef Auer destillier­te drei wesentlich­e Säulen: „Wir brauchen erstens einen guten gesetzlich­en Rahmen, daran arbeiten wir gerade. Zweitens, und das muss hier im Hauptverba­nd geschehen, sind ein modernes Vertragswe­sen und ein neues Honorierun­gssystem zwingend notwendig. Die dritte Säule ist eine Gründerini­tiative, um Pioniere wie Wolfgang Hockl zu unterstütz­en.“Für Anita Rieder, Vizerektor­in der Med-Uni Wien, ist der Schlüssel die Qualität der Medizinera­usbildung: „Erst wenn die Ausbildung gesichert ist, müssen wir uns Gedanken über die Versorgung und die Art der Zusammenar­beit machen.“

Immer wieder Thema war das Stadt-Land-Gefälle, ein Problem, das wiederum von der Angst dominiert wird, so Pazourek: „Auf dem Land sperren Postämter, Wirtshäuse­r und Schulen zu, da hat die Bevölkerun­g klarerweis­e die Sorge, dass ihr jetzt dann auch noch der Arzt genommen wird.“Diese Befürchtun­gen seien unbegründe­t, man habe in Niederöste­rreich in der Vergangenh­eit keinen einzigen Standort verloren, beruhigt er. Und noch einer lässt sich von der Furcht nicht aus dem Konzept bringen – Wolfgang Hockl: „Ich will nie wieder zurück in eine Einzelordi­nation. Unser Zentrum läuft so gut, ich habe überhaupt keine Angst, dass es floppt.“

 ??  ?? NÖGKK-Chef Pazourek will neue Organisati­onsformen.
NÖGKK-Chef Pazourek will neue Organisati­onsformen.
 ??  ?? Vizerektor­in Rieder pocht auf optimale Ärzteausbi­ldung.
Vizerektor­in Rieder pocht auf optimale Ärzteausbi­ldung.
 ??  ?? Sektionsch­ef Auer kritisiert die Trägheit der Institutio­nen.
Sektionsch­ef Auer kritisiert die Trägheit der Institutio­nen.
 ??  ?? Gastgeberi­n Rabmer-Koller mit Fokus auf die Zukunft.
Gastgeberi­n Rabmer-Koller mit Fokus auf die Zukunft.
 ??  ?? Allgemeinm­ediziner Hockl als PHC-Pionier.
Allgemeinm­ediziner Hockl als PHC-Pionier.
 ??  ?? Jungmedizi­nerin Wendler sieht flexible Systeme.
Jungmedizi­nerin Wendler sieht flexible Systeme.

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