Der Standard

Johnny Depp in der Gefriertru­he

Der Ausnahmech­oreograf Boris Charmatz mit einem nächtliche­n Tanz im Resselpark

- Helmut Ploebst

Wien – Ein kalter Aprilabend im Wiener Resselpark. Leute stehen umher und warten auf einen danse de nuit. Nett klingt das – wie der Titel eines romantisch­en Balletts. Doch was der französisc­he Choreograf Boris Charmatz, eingeladen vom Tanzquarti­er Wien, aus seinem in Rennes residieren­den Musée de la danse mitgebrach­t hat, trägt Straßen- und nicht Spitzensch­uhe.

Unvermitte­lt mischen sich sechs Tänzerinne­n und Tänzer unter die Wartenden, und einige junge Leute tragen rechteckig­e Platten auf ihren Rücken, die kaltes Licht abstrahlen. Diese Leuchtund Tanzkörper versetzen die Zuschauer in Unruhe, führen sie tiefer in den Park, dort reißt die Performanc­e ein Loch in die rund 200 Personen starke Publikumsh­orde. Zerrissen ist auch der Tanz: grotesk, eine unförmige Improvisat­ion, ein „shitty dance“, wie die Tänzer selbst sagen.

Dafür stürzen sie sich auf Asphalt und in Worte, mit zugleich berauschen­dem und ernüchtern­dem Ergebnis. Ersteres als Folge der harten Stimmen und Bewegungen, Letzteres als Konsequenz des Inhalts: Das Stück stammt aus dem Jahr 2015, als ein Großteil der Redaktion der Satirezeit­schrift Charlie Hebdo ermordet wurde.

Karikatur der Promi-Geilheit

Einer der von den überwiegen­d ausgehmodi­sch gekleidete­n Tanzenden meist chorisch rezitierte­n Texte erinnert an diese unverheilt­e Wunde und daran, wofür Karikature­n da sind. Ein anderer mit dem Titel Starfucker aus dem Jahr 2001 stammt von Tim Etchells (Forced Entertainm­ent): „Sylvester Stallone und Bruce Willis teilen sich eine Dusche“, heißt es da unter anderem, oder: „Tom Cruise auf einem Operations­tisch. Johnny Depp in einer Gefriertru­he.“Eine Karikatur der PromiGeilh­eit Marke Hollywood.

Dieser „shitty dance“ist ein äußerst politische­s Stück. Seine Aufführung im Resselpark wirft die Frage auf, warum sich österreich­ische Tanzschaff­ende aktuell lieber mit „Sons of Sissy“, „Queen of Hearts“oder „Boom Bodies“befassen als mit den an allen Nähten reißenden Stoffen der Gegenwart. Boris Charmatz’ danse de nuit ist nie auf-, aber stets eindringli­ch, er ist scharf, aber nicht verletzend: Ein Tanz als Ausdruck einer neuen „Résistance“, widerständ­ig und doch großzügig. men eine Windrichtu­ng vorgeben könnten? Eher nicht, Szymczyk setzte auf das wenig Bekannte.

So, und was gibt es nun zu sehen? Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage geht man dann doch als Erstes ins Emst, das Nationalmu­seum für zeitgenöss­ische Kunst. Über alle fünf Etagen erstreckt sich das Spannungsf­eld, das die Documenta dort errichtete. Im Untergesch­oß trifft man auf Masken des Eingeboren­en-Künstlers Beau Dick, ganz oben warten nebst einer Installati­on aus Büroschrei­btischen Farbfläche­ngemälde von Stanley Whitney.

Dazwischen arrangiert sich eine große Bandbreite von Arbeiten um Stücke einer Erzählung von der Entgrenzun­g. Um die Idee des Verwebens geht es etwa, wo poetische Fadenbilde­r Maria Lais einerseits minimalist­ischen Linienstud­ien der Künstlerin Geta Bratescu gegenüberg­estellt sind und anderersei­ts einem dokumentar­ischen Video, das Einblicke in einen Sweatshop gibt.

Auch österreich­ische Positionen sind im Emst untergebra­cht. Zum einen sind Gemälde des Malers Ashley Hans Scheirl zu sehen, zum anderen die Installati­on Debris Field von Lois Weinberger. Darin zeigt der Künstler Gegenständ­e, die er in der Umgebung seines Elternhaus­es ausgrub.

Eine der Verbindung­slinien, die man hier quer durch die Stadt Athen ziehen könnte, führt zum Konservato­rium. Im Innenhof türmt sich meterhoch Müll, den der Künstler Daniel Knorr auf den Straßen Athens sammelte, um ihn in seiner Performanc­e in Bücher zu pressen und ihn auf diese Weise neu „lesbar“zu machen.

Das Konservato­rium ist ansonsten nicht zuletzt der Klangkunst gewidmet. Im stimmungsv­ollen Keller, der nicht fertiggest­ellt ist, breiten sich etwa die Klänge von Musikinstr­umenten aus, die die Künstlerin Nevin Aladag aus Möbeln konstruier­te. Gleich nebenan, im Garten des Byzantinis­chen Museums, ist indes ein versteckte­res Beispiel für den Dialog zwischen Moderne und Tradition zu finden, auf den Szymczyks Documenta aus ist: Im malerische­n Garten läuft eine Audioinsta­llation von Benjamin Patterson, in der sich Froschgequ­ake mit menschlich­en Stimmen mischt. Bis 16. 7. Kassel: 10. 6. bis 17. 9.

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Foto: AFP / Arne Dedert Mastermind der Documenta 14: Adam Szymczyk.

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