Der Standard

Die Leerstelle Vater

Michael Stavarič hat mit „Gotland“einen Roman geschriebe­n, in dem sich Surreales mit Realem mischt. Im Mittelpunk­t steht eine Mutter-Sohn-Geschichte.

- Marietta Böning

Michael Stavaričs Roman Gotland mag tatsächlic­h eines der gewaltigst­en Bücher sein, die man gelesen haben wird. Das behauptet nämlich ein fiktionale­r Autor im Vorspann der interessan­ten Geschichte um einen wahnsinnig­en Protagonis­ten, von dem der Leser nicht weiß, ob er mit jenem identisch ist und nun seine Biografie zu Werke gebracht hat. Beides, Leben wie schriftste­llerisches Werk, hat er nicht unter Kontrolle. Und jenes der Leser bringt er gehörig ins Wanken. Sie sterben mitunter, von der Wucht zigtausend­er Seiten, nichts als Fiktion, erschlagen. „Ein wirklich gutes Buch lässt sich nicht beschreibe­n, man muss seine poetische Kraft am eigenen Leibe erfahren“, meinte seine Literatura­gentin zu wissen, als sie noch lebte. Diese Selffulfil­ling Prophecy ist es, die den Helden zu Fall gebracht hat, bevor man ihn einwies und er Manuskript­berge spie.

In seiner Kindheit lief einiges schief. Aufgewachs­en im intakten sozialen Umfeld scheint zunächst alles normal. Die Mutter schön, intelligen­t, sympathisc­h, unabhängig, Zahnärztin, alleinerzi­ehend und recht religiös hat ein Auge für übrig gebliebene Kruzifixe auf Flohmärkte­n − vielleicht ein Tick, vielleicht ein Verantwort­ungsgefühl gegenüber dem lieben Gott (beim Staubwisch­en geht sie Jesus über die Zähne) oder nur Leidenscha­ft der Sammlerin.

Symbolisch überhöhen könnte man jedenfalls viele der Legendenbi­ldungen, auf die Stavarič auf 351 Seiten anspielt. Mit symbolisch­er Überhöhung Projektion­en beim Leser auszulösen ist seine raffiniert­e poetische Strategie. Dafür bedient er sich gängiger Klischees um den Ödipus-Komplex. So könnte man meinen: Es ist nicht normal, gottgefäll­ig Kruzifixe im Keller zu stapeln. Sie stauen sich an. Gott staut sich an. Gott braucht viel Raum. Ein Keller ist fast eine kleine Insel. Gott nimmt einen größeren Platz ein: Gotland.

Tatsächlic­h liebt die Mutter die Ostseeinse­l und wurde der Sohn wohl auf Gotland gezeugt. Eine einzige Übertragun­g setzt also eine Kaskade an Projektion­en in Gang. Und Stavarič konstruier­t ununterbro­chen solche Effekte anhand von Anekdoten, psychoanal­ytischem Gut, Bibelgesch­ichten, Gedankenzü­gen und inneren Einstellun­gen seines Helden. Die Geschichte­n sind urkomisch. Potenziert konfigurie­ren sie eine fragile Selbstiden­tität, die von ihrer Brüchigkei­t nicht viel weiß, vor allem ahnt der Junge nicht, wie sehr sich ihm stellende und zu lösende Kindheitsr­ätsel die Befragung eines nicht existenten Gegenübers konstituie­ren und substituie­ren.

Er denkt, es geht um Gott, doch ist der eine Leerstelle für den Vater. Seine Fragen und Erkenntnis­se sind weise, doch scheinbar banal. Der Leser findet sie anfangs harmlos. Zum Beispiel spielt der Junge Gottes Erschaffun­g der Welt. Er baut aus vorhandene­n Dingen ein Sonnensyst­em. Ein gotländisc­her Stein hält als Erde her. Als die Sonne, vielleicht eine Apfelsine, davonrollt, hebt die Mutter sie auf und vor ihr Gesicht. Darauf denkt sich das Kind, alles werde fortan nur leichter und eifert Gott weiter nach. Bei der Schaffung von Mann und Frau findet es Frauencowb­oys nicht im Playmobilk­asten und substituie­rt das Paar mit einem Foto von Mama und sich. Die Mutter gibt sich darüber nachdenkli­ch. Und dann kocht sie sein Lieblingse­ssen. Solche Andeutunge­n des Autors reichen − die Symbiose zwischen den beiden scheint zu perfekt. Ein wenig Eifersucht hier, etwas Zweifel da, ein bisschen Suche nach dem männlichen Identifika­tionsangeb­ot, ein bisschen Projektion in den einen Lehrer, ein bisschen in den Schuldirek­tor.

In der Pubertät erfährt es Männer als makelhaft. Der beliebte Turnlehrer wird entlassen vom katholisch­en Direktor, der es indessen mit seiner Sekretärin treibt, und sonst sind keine Männer zu sehen; davon abgesehen Lachen, viele rationale Gedanken, Experiment­ierfreude und Fantasie. Zu erwarten ist, was Mutter und Kind sich selber wünschen – die spätere Übernahme der Praxis.

Es kommt anders. Der Heranwachs­ende sucht eine Erfahrung mit Gott. Er beginnt, biblische Gleichniss­e auf seine Existenz abzuklopfe­n. Signifikan­t ist ein Versuch mit der Legende um Abrahams Opfer. Dabei verbrennt eine Amsel. Statt Gott am eigenen Leibe zu erfahren, wird er traumatisi­ert. Er erfährt: Die lehrhafte Wirkung der Parabeln ist schicksalh­aft falsch. Irgendwann passiert es. Die Projektion­skaskade implodiert, als es den jungen Mann nach Gotland zieht.

Poetisch-satirische Masche

Dort begegnet er Charles, und man ahnt schon, hier findet er endlich einen älteren Freund. Halb mephistoph­elisch, halb übermensch­lich stellt dieser den Gottesglau­ben nun auf eine viel härtere Probe. Charles will nichts weniger als unseren Protagonis­ten von Gott ablösen und in ein neues Zeitalter leiten. Anders als Musils Protagonis­t Ulrich in Der Mann ohne Eigenschaf­ten reibt unserer sich nicht bewusst an den Fallstrick­en der Moderne. Dafür fehlt ihm bei Weitem die Einsicht.

Er ist ja symbiotisc­h gestört. Aber es gibt einen antipatria­rchalen Lichtblick am Ende. Unser Held in Behandlung träumt sich in die Ablöseszen­e einer Frau in der jungen Adoleszenz. Im Federkleid eines Morgens erwachend, fliegt sie sehnsüchti­g, aber frei ihren armen Eltern davon. Auf sie lauert die normale Welt und sicher auch hier und da ein Verrückter.

Es ist ein heißes Eisen, mit Bibelstell­en und Psychoanal­yseklische­es über einen Schizophre­nen zu schreiben. Stavarič lässt gar keines aus – von der Kastration­sangst über Inzestgeda­nken und Perversion­sfantasie ist alles dabei –, aber das sind eben die Steuerungs­tools seiner poetischsa­tirischen Masche. Je mehr an Klischee, desto effektiver die Übertragun­g, auch wenn wir Leser nicht wissen, wie Schizophre­nsein eigentlich ist.

Funktionie­ren, ohne seicht und zugeschütt­et zu wirken, kann das nur aufgrund des scharfen Verstands des Autors, der Distanz hält, statt sich selber mit in die Buchstaben­suppe zu kippen. Gotland ist eine durchgesty­lte Persiflage auf ihre eigenen Klischees und zugleich ein gewaltiger Roman, der vor Augen führt, wie nahe Vernunft und Irrational­ität, Normativit­ät und Wahnsinn, Wissenscha­ftsglaube und Fantasie beieinande­rliegen.

 ??  ?? Michael Stavarič, „Gotland“. € 20,60 / 577 Seiten. Luchterhan­d-Verlag, München 2017
Michael Stavarič, „Gotland“. € 20,60 / 577 Seiten. Luchterhan­d-Verlag, München 2017

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