Der Standard

Kleine Petersburg­er Ode

Lange tuckert die Rolltreppe hinunter in die zweite Ebene der Stadt. Du gehst, du strömst mit in der Petersburg­er Metro – von einer Station zur nächsten.

- Katharina Tiwald

Petersburg, das ist ein Geruch: ein vertrauter, unsichtbar­er Schleier aus Staub, Hund, Alter. Es ist ein flüchtiger Geruch, er wird die Globalisie­rung und das Eindringen westlicher Putzmittel­scharfmach­er nicht überleben. Jedes neue Gebäude stampft ihn aus wie eine abgeraucht­e Zigarette. Irgendwann wird er umzingelt sein, ausgeräuch­ert.

Petersburg, das ist die Distanz: die fröhliche Rückkehrer­in erzählt den Mitreisend­en, es sei eigentlich ein Katzenspru­ng vom Gostinny Dwor bis zur Newa, ein Spaziergan­g; am Fluss angekommen wanken die Petersburg­neulinge bleichgesi­chtig und vorwurfsvo­ll zum Brückengel­änder.

Nicht zu vergessen die U-Bahn. Bis zu sechzig Meter liegen die Schächte unter der Erde, die Stationen versehen mit Mosaiken, Stuck, Prachtleuc­htern (und fünf, nämlich die Puschkinsk­aja, Dostojewsk­aja, Majakowska­ja, Gorkaja und Tschernysc­hewskaja, sind nach Schriftste­llern benannt; es gibt auch „Leninplatz“und „Proletarsk­aja“).

Lange tuckert die Rolltreppe hinab in die zweite Etage der Stadt. In der Gegenricht­ung schmust manchmal ein Pärchen und lässt sich ans Licht tragen. Unten, in kleinen Kabäuschen, sitzen übellaunig­e Damen in Uniform und bewachen das langsame Treiben. Ab und zu bellen sie einen Befehl in ihr Mikrofon. Du gehst, du strömst mit, vorbei an den Kabäuschen, du wartest auf die großen Sardinenbü­chsen, als die sich die Metrowaggo­ns verkleidet haben. Die Stimme, die dich auf deiner langen, langen Reise begleitet – mindestens drei Wiener U-BahnStatio­nen würden in die Strecke passen, die die Petersburg­er Metro von einer Station zur nächsten durchschni­ttlich zurücklegt – die Stimme ist die eines Mannes, eine angenehme Tonlage, wie aus einem Sowjetfilm. Beim Einfahren wird die Station genannt, und gleich: „Die nächste Station ist …“ Einmal, als wir jung und dumm waren, lästerten eine Freundin und ich in unserem hier geheimen Deutsch über die Ohrenhaare eines alten Herrn, der neben uns im Waggon stand. Als die U-Bahn hielt, hat er sich höflich von uns verabschie­det. Auf Deutsch. Einmal – aber das war in einem Bus, Jahre später, eine andere Freundin – hat uns einer in Jeansjacke beschimpft: deutsche Huren. Und die älteren Frauen, die sich durch die vollen Busse quetschen und die briefmarke­ngroßen Fahrkarten verkaufen, sind nie betrunken – bis auf das eine Mal vor fünfzehn Jahren, als meine flugängstl­iche Mutter nachts ankam: Das Empfangsko­mitee im Bus waren ich und die besoffene Kontrolleu­rin.

Petersburg, das ist eben auch das Wässerchen Wodka, aber viel, viel mehr ist es Wasserfläc­he, die majestätis­che Newa, das Netz aus Kanälen, der Hafen, der Finnische Meerbusen, spiegelnde Weite. Petersburg, das sind Bauten aus allen Zeitschich­ten, die zaristisch­e Zeile an der Newa, der Jugendstil der Jahrhunder­twende, Details an den Fassaden, Adler, Fliegen, Engel, der gläserne Globus am Dach des Dom Knigi, die blaue Kuppel der Moschee am Flussufer, 1913 eröffnet: Die besten Architekte­n der Stadt hatten um diesen Auftrag gekämpft. Petersburg, die alten Innenhöfe, das Innenhofsy­stem, du gehst von einem zum anderen. Ganglien der Stadt. Putin, heißt es, war ein Innenhofki­d. Petersburg, die Plattenbau­ten am Stadtrand, krächzende Aufzüge in den Oldtimern und Umzingelun­g durch neue Hochhäuser: rasendes Wachstum.

Petersburg – das sind Schüsse. Bomben. Durch ein Attentat starb 1881 Alexander II., wie vor ihm und nach ihm etliche Zaren, nur schlug hier erstmals eine Terrorgrup­pe zu, die „Narodnaja Wolja“– „Volkswille“bzw. „Volksfreih­eit“. Fast 50 Jahre vorher erlag der Nationaldi­chter Alexander Puschkin auf seinem Sofa dem Bauchschus­s, den er sich bei einem Duell geholt hatte, dort, wo heute an der Metrostati­on „Tschernaja Retschka“, „Schwarzes Flüsschen“, monströse Einkaufsze­ntren stehen und Schlafburg­en. Dann 1905, als der Zar in eine friedliche Demonstrat­ion feuern ließ. Die Revolution von 1917. Bürgerkrie­g, Tote. KGB-Kugeln. Terror. Die Bomben und Schüsse der Wehrmacht, der Hunger, die Verhungert­en der Blockade von Leningrad. Das Freudenfeu­erwerk am Ende der Kriege: Sprengstof­f der guten Art. Dann wieder Staatsterr­or, 1950 gegen Angehörige der Leningrade­r Stadtregie­rung. Schüsse. 1996 das Ende der Todesstraf­e. Messeratta­cken, Schüsse, Überfälle. Mafia, Verbrecher, Auftragsmö­rder.

Petersburg, das sind meine Freunde. Einer von ihnen, Wladimir Kustow, ist Künstler, er malt oft Tote, in Schwarz, Weiß und Grau. Er malt Krähen, Muscheln, Stricke, Messer. Mandalas. Am 3. April schreibt er mir, ihm sei nichts passiert. „Aber um die Menschen ist mir wahnsinnig leid.“

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Foto: Privat Die Autorin und Slawistin Katharina Tiwald über St. Petersburg, wo sie länger lebte.

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