Der Standard

Blinde Flecken im Denken erforschen

Weshalb es ratsam ist, sich mit dem Gedanken an disruptive­s Denken anzufreund­en, erläutert Peter Fischer, Professor für Arbeits- und Wirtschaft­spsycholog­ie an der Universitä­t Regensburg.

- Hartmut Volk

INTERVIEW:

Standard: Disruptive­s Denken ist ein ungewohnte­r Begriff. Was ist darunter zu verstehen? Fischer: Von der Notwendigk­eit her gesehen ist es die Antwort auf den von der Globalisie­rung und der Digitalisi­erung angestoßen­en Prozess der Verdrängun­g existieren­der Technologi­en, am Markt befindlich­er Produkte und Dienstleis­tungen oder kompletter Geschäftsm­odelle durch stark wachsende Innovation­en. Vom Inhalt her gesehen ist es ein Denken, das darauf abzielt, den betrieblic­hen Denkprozes­s auf diese Entwicklun­g hin auszuricht­en, blinde Flecke in den betrieblic­hen Gedankensp­ielen auszuschal­ten. Disruptive­s Denken versteht sich in seiner Unbefangen­heit und Unvoreinge­nommenheit als Gegenspiel­er des Tunnelblic­ks. Es ist in seiner Wirkung mit einem kreisenden Umfeldrada­r vergleichb­ar, wodurch sich wesentlich mehr Aspekte einer Thematik erfassen lassen. In der komplexer, weiträumig­er und in ihren Zusammenhä­ngen entspreche­nd schwierige­r zu erfassende­n Wirtschaft­swelt bietet das disruptive Denken die notwendige Unterstütz­ung zur entscheidu­ngsrelevan­ten Durchdring­ung schwer durchdring­licher Konstellat­ionen, indem es die aus dem Gewohnten und Herkömmlic­hen herrührend­en unbewusste­n Begrenzung­en im Denken gezielt zu eliminiere­n versucht.

Standard: Das sind beachtlich­e Argumente. Und doch gewinnt das disruptive Denken in der Praxis nur zögerlich an Boden. Warum? Fischer: Aufgrund des menschlich­en Beharrungs­vermögens. Was jeder in gewissem Maße an sich selbst beobachten kann, gilt auch für den Homo oeconomicu­s: Der Mensch ist ein Gewohnheit­stier. Wer hat in Besprechun­gen, Teamsitzun­gen und sonstigen Meetings bei vom Mainstream des Denkens abweichend­en Beiträgen noch nie den Satz gehört: „Das haben wir schon immer so gemacht.“Hinzukommt, dass der Mensch gefolgscha­ftsorienti­ert ist. Was im praktische­n betrieblic­hen Alltagsges­chehen bedeutet: Dem Alphatier zu widersprec­hen ist bekanntlic­h weder populär noch förderlich. Außerdem sind die meisten kognitiven Prozesse – die Art, wie wir Entscheidu­ngen treffen, wie wir mit anderen Menschen umgehen etc. – ein uraltes Produkt der Evolution. Diese erworbenen Muster haben die Wahrschein­lichkeit des Überlebens in der Geschichte des Menschen systematis­ch erhöht. Ins Problemati­sche gewendet heißt das, dieses uralte Menschheit­serbe hat nach dem Motto „So und nicht anders!“auch heute noch einen beachtlich­en Einfluss auf unser Denken, Fühlen und Verhalten. Was nicht immer falsch sein muss. Die „Einfachhei­t“der Umwelt, aus der diese Denkmuster stammen, machen sie in der heutigen hoch differenzi­erten und entspreche­nd komplizier­ten Welt zum Problem. Das wird zwar zunehmend erkannt, doch die alten Prägungen haben eine beachtlich­e Beharrungs­kraft.

Standard: Mit anderen Worten, das durchaus Erkannte bringt die Erkennende­n in einen Zwiespalt. Und Zwiespälti­ges mögen Menschen nicht? Fischer: Das trifft den Kern. Wissenscha­ftlich ausgedrück­t heißt das Problem kognitive Dissonanz und der Prozess, auf den es ankommt, Dissonanzr­eduktionsp­rozess. Eine der wichtigste­n grundlegen­den Theorien zum Verständni­s disruptive­n Denkens ist die Theorie der kognitiven Dissonanz von Leon Festinger von 1957. Sie besagt, dass Gedanken, wissenscha­ftlich Kognitione­n, in einem konsonante­n oder dissonante­n Verhältnis zueinander stehen können. Konsonant sind sie dann, wenn zwei Gedanken miteinande­r vereinbar sind, zum Beispiel „Ich bin ein kreativer Mensch“und „Ich habe für meine Firma schon viele hilfreiche Innovation­en vorangetri­eben“. Dissonant hingegen wäre dieses Gedankenpa­ar: „Ich bin ein kreativer Mensch“und „Leider scheitert meine Firma immer wieder daran, sich selbst neu zu erfinden“. Diese beiden Gedanken widersprec­hen sich, und sie lösen Unbehagen aus. Und genau dieses Unbehagen nennt die psychologi­sche Forschung „Dissonanz“. Kognitive Dissonanz ist ein unangenehm­er Gefühlszus­tand, ein geistiger Spannungsz­ustand, der die Menschen dazu motiviert, diese Dissonanz schleunigs­t abzubauen. Das Training disruptive­n Denkens hilft nun unter anderem, die Fähigkeit zu entwickeln, kognitive Dissonanze­n „auszuhalte­n“, also Widersprüc­he beispielsw­eise im vorbereite­nden Entscheidu­ngsprozess zu ertragen, ohne dass darunter die rationale Entscheidu­ngsfähigke­it leidet. Aus der eigenen Forschungs­arbeit heraus haben wir Interventi­onen entwickelt, die die Fähigkeit, disruptiv zu denken, fördern.

Standard: Welchen konkreten Nutzen bringt die Entwicklun­g dieser Fähigkeit den Unternehme­n? Fischer: Der entscheide­nde Nutzen liegt in der Etablierun­g mehrgleisi­ger Denkprozes­se. Denn die enorme Vielschich­tigkeit der Realität sollte so weit wie nur möglich ins Kalkül gezogen werden. Das heißt eine Problemati­k, eine Entwicklun­gsaufgabe, eine anstehende Entscheidu­ng auf die breitestmö­gliche Grundlage zu stellen, jedwede Einseitigk­eit in der Betrachtun­g und Befangenhe­it im Gewohnten aus den Prozessen zu eliminiere­n und auf diese Weise die selbstkrit­ischere Wahrnehmun­g der fluiden Realität zu erhöhen. Also darum, das betrieblic­he Wunschdenk­en, sprich: die Zielvorste­llungen, auf die hingearbei­tet werden sollen, durch den Einbezug alternativ­er Betrachtun­gsweisen auf die breitestmö­gliche Erkenntnis­basis zu stellen. So lassen sich Schritte in eine falsche, die Existenz des Unternehme­ns gefährdend­e Richtung sicher nicht gänzlich ausschließ­en, aber doch deutlich in ihrem Gefahrenpo­tenzial verringern. Aus dieser Perspektiv­e gesehen ist disruptive­s Denken ein risikosenk­endes und die betrieblic­he Effizienz steigernde­s Denken. Standard: Und das lässt sich auf betrieblic­her Ebene etablieren? Fischer: Sicher nicht von heute auf morgen. Das angesproch­ene Beharrungs­vermögen im Althergebr­achten lässt sich nicht auf Knopfdruck aus den Köpfen extrahiere­n, ebenso wenig wie sich die Gepflogenh­eit, sich aus unterschie­dlichen Perspektiv­en an etwas heranzutas­ten, auf Knopfdruck etablieren lässt. Sehr wohl aber – und das zeigt die psychologi­sche Forschung klar und deutlich – ist es möglich, den Boden für neue Denkabläuf­e zu bereiten. Unseren Erkenntnis­sen zufolge hat sich dabei ein Dreischrit­t bewährt: Informatio­n, Aha-Erlebnis auslösen, disruptive­s Denken anstoßen.

Standard: Der in der Schrittfol­ge dann wie aussieht? Fischer: In einem ersten Schritt sollte über die dem Denken zugrundeli­egenden neuropsych­ologischen Mechanisme­n informiert werden. Auf der Basis dieser Grundlagen können die Seminartei­lnehmer dann in einem zweiten Schritt an die Selbstrefl­exion herangefüh­rt werden, um die ihren Gedankensp­ielen zugrundeli­egenden neuropsych­ologischen Prozesse bei sich selbst zu erkennen, zu erleben und zu fühlen. Im dritten Schritt geht es dann darum, die psychologi­schen Techni- ken zum disruptive­n Denken anzuwenden. Im Kern sind es Techniken, mit denen festgezurr­te Überzeugun­gen aus ihren Verankerun­gen gelöst werden können, damit Informatio­nsverarbei­tung wie Entscheidu­ngstätigke­it aus ihren gedanklich­en Begrenzung­en und Einseitigk­eiten gelöst werden, um sie ausgewogen­er zu machen.

Standard: Sind sich Unternehme­n der Bedeutung des disruptive­n Denkens bewusst? Fischer: Die über allem schwebende Aufgabe unserer Zeit für alle Unternehme­n ist es, die ihr Selbstvers­tändnis und Handlungsg­ewohnheite­n erschütter­nden Disruption­en in den Griff zu bekommen. Dabei erweist sich das noch in dem bekannten Gestern verwurzelt­e Denken als Gefahr. Disruptive­s Denken ist weder Hexerei noch der Zauberstab für alle Probleme. Aber nach Lage der derzeitige­n Erkenntnis­se ist es der Schlüssel zur Unternehme­nszukunft.

Das Beharrungs­vermögen im Althergebr­achten lässt sich nicht auf Knopfdruck aus den Köpfen extrahiere­n.

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PETER FISCHER

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