Der Standard

Arbeiten an der baulichen und der sozialen Substanz

Gemeinscha­ftliches Bauen verlangt nach mehr als nur einem architekto­nischen Konzept. Eines der ersten Projekte Wiens befindet sich im siebenten Bezirk. Architekt Rüdiger Lainer war von der an ihn herangetra­genen Aufgabe fasziniert.

- Michael Kerbler

Wien – Das Wohnprojek­t Hermanngas­se, eines der ersten Gemeinscha­ftswohnpro­jekte Wiens, befindet sich in einer ruhigen Seitengass­e im siebenten Bezirk. Eine kleine Privatinit­iative beschloss 1985, gemeinsam zu wohnen, und ging auf Haussuche. „Das Haus war eigentlich zum Abriss vorgesehen. Aber dann ist das Denkmalamt gekommen und hat gesagt, es darf nicht abgerissen werden. Der vordere Teil zur Straße hin ist älter, und hinten befand sich die ehemalige Fabrik“, berichtet Sieglinde Dörfler, Gründungsm­itglied des Wohnprojek­ts. Das Gebäude, es gehörte der Stadt Wien, wurde von der Gruppe im Eigentum erworben. Bedingung war, es als Ge- meinschaft­sprojekt zu gestalten und zu nutzen. Nur so war es dem Verein möglich, einen Kredit für den Umbau des Biedermeie­rhauses zu bekommen.

Dann begaben sich die mittler- weile fünfzehn Mitglieder des Wohnprojek­ts auf Architekte­nsuche. Sie einigten sich auf den Architekte­n Rüdiger Lainer, der gemeinsam mit der Gruppe das Haus umplanen sollte. Die Herausford­erung, ein partizipat­ives Wohnprojek­t realisiere­n zu können, fasziniert­e ihn. „Ich habe damals gemerkt, dass das Partizipat­ive – ich wähle aus, beschreibe meine Vorstellun­gen vom Familienle­ben und vom Wohnungsgr­undriss – zu wenig weit geht. Mir ging es darum, eine Methode zu finden, mit der man die Tore zum Reich der Möglichkei­ten öffnet – etwas pathetisch formuliert.“Der Einstieg in die Konzeption­sphase verlief für die Gruppe überrasche­nd: „Rüdiger Lainer wollte, dass wir in freier Fantasie entwickeln, wie wir unsere Wohnungen gestalten wollen“, erinnert sich Dörfler. „Ich habe gesagt“, erzählt Lainer, „versucht euch vorzustell­en, wie ihr gern leben würdet. Nicht im Sinn von Räumen, sondern: Wie lebe ich von Träumen, von Geschichte­n. Etwa: Würde ich gern fliegen können? Schreibt Gedichte, Geschichte­n oder zeichnet Bilder. Entwerft die Vision einer zukünftige­n Welt, die farbig genug ist, um erstrebens­wert zu sein, aber vage genug ist, um Potenzial für konkrete Entwicklun­g zu besitzen.“

Vier Meter hohe Räume

Die Fantasie der Gruppe lieferte dem Architekte­n reichlich Material für die Umplanung des Hauses. Im Wiener Stadterneu­erungsfond­s „gab es unglaublic­h engagierte Leute, und da es eines der ersten Totalsanie­rungsproje­kte war, gab es keine Hinderniss­e“, sagt Lainer. Das Ergebnis beinhaltet­e architekto­nische Elemente, die heute im gemeinscha­ftlichen Wohnen selbstvers­tändlich sind: Freifläche­n, die Begegnung ermögliche­n, Gemeinscha­ftsräume und Räumlichke­iten für einen kleinen Kindergart­en. Die Fabrikräum­e mit ungewohnte­n vier Metern Höhe erlaubten ungewöhnli­che Raumnutzun­gen. „Es gibt Wohnungen mit geschwunge­nen Mauern, Badezimmer in Form einer Schnecke, manche im Halbstock eingebaut, und farbige Innenwände im Haus“, sagt Sieglinde Dörfler. Rüdiger Lainer wollte einerseits „aus Respekt vor der Geschichte“mit der Substanz des Hauses schonend umgehen, anderseits musste er technische Funktionen in die Räume integriere­n. „Wenn alle sagen, das ist von den Kosten her nicht umsetzbar, dann müssen wir etwas finden, damit es umsetzbar wird. Badezimmer, WCs, Küchen haben wir deshalb als Funktionse­inheiten konzipiert und als Implantate eingesetzt.“

Für Dörfler ist Lainers architekto­nisches Konzept voll aufgegange­n: „Unser Projekt ist gut geglückt. Es gab in all den Jahren nur drei Besitzerwe­chsel.“Die Wohnbeding­ungen sind ein wesentlich­er Faktor dafür, dass das Gemeinscha­ftsprojekt Hermanngas­se gelungen ist. Aber, meint Dörfler, damit Gemeinscha­ft gelebt werden kann, „muss ich zuerst wissen, was mir wichtig ist im Zusammenle­ben. Und ich muss wissen, welches Konzept ich für mein Leben habe. Auch für mein Alltagsleb­en: Halte ich zum Beispiel Kinder aus, die Lärm machen.“Die Zeit sei wichtig, um gemeinsam Regeln für das Zusammenle­ben zu finden. „Alle Beteiligte­n brauchen viel Geduld mit sich und den anderen, um nicht zu schnell aufzugeben. Aber so lernt man die anderen und sich selbst kennen. Man lernt, wo man vorsichtig oder toleranter, großzügige­r sein muss. Und man sollte darauf achten, dass man keinen Querulante­n dabei hat.“Partizipat­ive Wohnprojek­te erbringen den Nachweis, so Lainer, „dass Architektu­r eine soziale, eine gesellscha­ftsverände­rnde Relevanz hat. Um die Gesellscha­ft zu verändern, muss man die Bedingunge­n verändern, und ein Teil davon sind die Wohnbeding­ungen, es sind nicht nur die Produktion­sbedingung­en.“

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Das umgebaute Haus an der Wiener Adresse Hermanngas­se 29 mit 13 Wohnungen, einer Ordination und Geschäften wurde 1989 bezogen.

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