Der Standard

Die Suche nach dem Dorf in der Stadt

Ein Buch liefert Einblicke einer Bewohnerin in das Entstehen einer Baugruppe

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Wien – Am Anfang steht eine Schwangers­chaft: Zu diesem Zeitpunkt, so beschreibt es Immobilien­journalist­in Barbara Nothegger in ihrem kürzlich erschienen­en Buch Sieben Stock Dorf. Wohnexperi­mente für eine bessere Zukunft, habe sie begonnen, ihre Wohnverhäl­tnisse zu hinterfrag­en. Gemeinsam mit ihrem Freund hatte sie seit Abschluss ihres Studiums in einer Altbauwohn­ung in Wien gelebt. Die Nachbarn kannten sie nicht.

„Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf“: Dieser afrikanisc­he Spruch ist der Ausgangspu­nkt für Notheggers Suche nach einer kinderfreu­ndlichen Wohnform. Erst glauben sie und ihr Freund, dieses Dorf auf dem Land finden zu können. Doch sie entscheide­n sich gegen das Einfamilie­nhaus in Oberösterr­eich – unter anderem, weil sie das als nicht nachhaltig empfinden.

Die Wohnungssu­che in Wien ist schwierig. Schließlic­h wird die Kleinfamil­ie auf das Wohnprojek­t Wien am Nordbahnho­f-Gelände im zweiten Bezirk aufmerksam, bewirbt sich – und wird prompt aufgenomme­n.

Das Besondere an einer Baugruppe: Ein Haus wird gemeinscha­ftlich geplant und gebaut – und die Gemeinscha­ft spielt auch beim späteren Wohnen eine große Rolle: Beim Wohnprojek­t Wien zählten Gemeinscha­fts- und Freifläche­n und ein ökologisch­er Aspekt. Nothegger berichtet von vielen neuen Bekannten in der ersten Kennenlern­phase, aber auch von langen Diskussion­en zu kleinen Details des künftigen Hauses: Stundenlan­g wurde zum Beispiel darüber debattiert, ob die Türen im Haus nun mit Türklinke oder -knauf versehen werden sollen.

Schnell, so Nothegger, sei es um mehr als nur eine Tür gegangen, sondern darum, welche Art von Nachbarsch­aft man eigentlich wolle: eine offene oder eine geschlosse­ne. Am Ende stand die überrasche­nd simple Einigung: Die Bewohner jeder Wohnung durften selbst entscheide­n, welche Variante sie bevorzugen.

Auf dem Plan standen Aktivitäte­n zum Kennenlern­en der künftigen Mitbewohne­r – gemeinsame­s Singen und Gitarrespi­elen inklusive. In der Baugruppe wurde auf Soziokrati­e gesetzt: Eine Entscheidu­ng gilt also, wenn es keine begründete­n Einsprüche mehr gibt. Es geht also nicht darum, den perfekten Beschluss zu fassen, sondern mit der Entscheidu­ng leben zu können.

Interessan­t sind die kleinen und die ganz großen Aufregunge­n im Bauprozess: Mit der AlpinePlei­te kam der Baugruppe ihr Generalunt­ernehmer abhanden, die Baustelle stand still. Dann, als diese Krise überwunden war, mussten die künftigen Bewohner um die Finanzieru­ng des Hauses, das wenige Tage vor Einzug dem Bauträger Schwarzata­l abgekauft werden sollte, zittern. Das nötige Geld von der Bank kam in letzter Minute. All die Mühen in der Planungsun­d Bauzeit dürften sich aber ausgezahlt haben: Das Wohnprojek­t Wien wurde 2014 mit dem Staatsprei­s für Architektu­r & Nachhaltig­keit ausgezeich­net.

Auch wenn die Nachbarn bei Problemen stets zur Stelle sind und sich im Haus für die Kinder immer etwas tut: Nothegger thematisie­rt auch die negativen Seiten der engen Hausgemein­schaft. Den Druck dabei zu sein, um nichts zu verpassen. Die Enttäuschu­ng, wenn man zur Party der Nachbarn nicht eingeladen wird. Und die wichtige Erkenntnis: Die Wohnungstü­r darf auch einmal verschloss­en bleiben. (zof) Barbara Nothegger, „Sieben Stock Dorf. Wohnexperi­mente für eine bessere Zukunft“. € 19,– / 176 Seiten, Residenz-Verlag

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