Zeichen stehen auf knappen Sieg für Erdogan
Letzte Umfragen vor dem Referendum am Sonntag lassen eine wachsende Zustimmung für die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei erkennen. Doch in Erdogans eigener Partei bleiben die Bedenken.
ANALYSE: Ankara/Athen – Seine Rechnung könnte einmal mehr aufgehen: Knapp, aber mit einem nun doch deutlich werdenden Vorteil für den autoritär regierenden Staatschef stellt sich in der letzten Woche der Kampagne der Ausgang des Verfassungsreferendums in der Türkei dar. 53,3 Prozent für Tayyip Erdogans Präsidialregime und die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie hat das renommierte, nicht als regierungsnah geltende Meinungsforschungsinstitut Gezici errechnet. Von einer politischen Wiedergeburt Erdogans spricht der Institutsleiter bereits.
Nach 14 Jahren an der Macht zahlt sich Erdogans neues Bündnis mit den rechtsgerichteten Nationalisten aus, so heißt es. „Europa bricht zusammen. Es wird bezahlen für das, was es gemacht hat“, drohte Erdogan zuletzt unter dem Jubel tausender Anhänger in Izmir, eigentlich einer Hochburg der sozialdemokratischen Opposition. Die Verschwörungstheorie von den Europäern, die gegen das Ja zur Verfassungsänderung arbeiteten, um den Aufstieg der Türkei zu verhindern, zieht bei Erdogans Publikum. 70 Prozent der türkischen Wähler stehen ohnehin rechts von der Mitte, erinnert das Gezici-Institut.
Andere Meinungsforscher sehen vor der Abstimmung am Sonntag das Nein-Lager knapp vorn. 51 Prozent hält das SonarInstitut für wahrscheinlich, doch bei einer Fehlerquote von 1,7 Prozent kann alles auch ganz anders ausschauen. Viel hängt offenbar davon ab, ob die Nichtwähler mobilisiert werden können. 75 Prozent von ihnen sollen gegen die Verfassungsänderung sein, halten ihre Stimme aber für wirkungslos – für oder gegen den Mann, der künftig ohne Premier und weitgehend ohne Kontrolle durch Parlament und Justiz regieren will.
Schweigen der AKP-Granden
Das größte Risiko bei dieser Volksabstimmung sei eigentlich die AKP, glaubte das Sonar-Institut noch nach einer Umfrage im Jänner herausgefunden zu haben. Auf 35 Prozent schätzte es den Anteil der Gegner von Erdogans Präsidialherrschaft unter den Stammwählern der konservativ-religiösen Regierungspartei. Die verhin- derten Wahlauftritte von AKP-Ministern in Europa und vor allem die nächtliche Ausweisung der Familienministerin Fatma Betül Sayan Kaya aus den Niederlanden mögen die Meinungen zugunsten Erdogans geändert haben. Das laute Schweigen der ehemaligen AKP-Granden ist geblieben.
So trat Erdogans Amtsvorgänger und jahrelanger politischer Weggefährte Abdullah Gül während der Referendumskampagne nicht in Erscheinung und wollte sich selbst in seiner Heimatstadt Kayseri bei einer Großkundgebung nicht an der Seite von Regierungschef Binali Yildirim zeigen. Aus der Liste der Parteigründer auf der Webseite der AKP ist Gül bereits gelöscht worden. Der umgängliche, auf Ausgleich bedachte Gül wird ebenso wie der frühere Parlamentspräsident und Vizepre- mier Bülent Arinç dem Nein-Lager zugerechnet. Auch Ahmet Davutoglu, der langjährige Außenminister und erste Ministerpräsident nach Erdogans Wechsel ins Präsidentenamt 2014, rührte keine Hand in diesem Wahlkampf.
Parteispaltung als Szenario
Anders als Gül und Arinç hat Davutoglu keine nennenswerte Gefolgschaft innerhalb der AKPFraktion im Parlament. Auch er gilt aber als potenzieller Unterstützer einer neuen islamischen Partei, sollte die AKP etwa im Fall einer Niederlage beim Referendum auseinanderbrechen.
Erdogans einstige Mitstreiter beobachten die Prunksucht und immer nur weiter gehende Machtkonzentration des Präsidenten mit Sorge. Das Scheitern der Friedensverhandlungen mit den Kurden, der Konfrontationskurs mit der EU und die Säuberungswellen im Staat gegen angebliche Anhänger der Bewegung des Predigers Gülen kommen hinzu. Moralische oder religiös begründete Einwände gegen Erdogans Politikstil werden schon seit seiner Wahl zum Staatschef laut. Intellektuelle Islamisten wie Ali Bayramoglu oder Levent Gültekin, die heute als Gegner der Verfassungsänderung auftreten, kritisierten eine Abkehr von den Idealen der AKP. Die kleine Islamistenpartei Saadet tat ihr Nein zu Erdogans Alleinregierung kund. Eine „Plattform für Recht und Gerechtigkeit“tritt mittlerweile im Internet und in den konservativen Vierteln der türkischen Großstädte auf. Der Prophet sei stets gegen Despoten gewesen, erklärt sie den Passanten. p Video zu Wahlbeteiligung in Wien
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