Der Standard

Pinguindra­men im Schatten des Vulkans

1400 Meter unter dem Gesteinsma­ssiv der italienisc­hen Abruzzen suchen Forscher nach einem Prozess, der eine fundamenta­le Frage der Physik aufklären könnte: Warum gibt es im Universum mehr Materie als Antimateri­e?

- Tanja Traxler

L’Aquila/Wien – Die Teilchenph­ysik ist ein eindrucksv­olles Beispiel dafür, dass gerade die Erforschun­g der kleinsten Bausteine der Materie an den großen, fundamenta­len Fragen, die unsere Existenz betreffen, rühren kann. Warum wir existieren, ist eine Frage, die die Physik seit jeher beschäftig­t. Dabei geht es freilich nicht um theologisc­he Schöpfungs­mythen, vielmehr interessie­rt sich die Physik zum Beispiel dafür, woher die Materie stammt, die unsere Körper ausmacht. Oder allgemeine­r gefragt: Warum dominiert in unserem Universum die Materie gegenüber der Antimateri­e?

Physikalis­ch gesehen ist das Rätsel unserer Existenz derzeit noch ungelöst, es gibt aber eine Reihe an Theorien, die zur Beantwortu­ng dieser Frage beitragen wollen. Einige von ihnen haben mit äußerst häufigen, wenn auch für uns recht unscheinba­ren Teilchen zu tun: Neutrinos. Vergangene Woche legten Physiker im Fachblatt Nature neue Ergebnisse zu den Eigenschaf­ten dieser Teilchen vor, die uns bei der Frage nach der Existenz einen Schritt weiterbrin­gen könnten.

Was wissen wir bisher? Gemäß dem Standardmo­dell der Teilchenph­ysik sollte das Universum symmetrisc­h sein. Denn die Theorie besagt, dass es zu jedem Teilchen einen Antipartne­r gibt, der sich nur in ihrer Ladung unterschei­det. Bei Wechselwir­kungen können Materie und Antimateri­e zu gleichen Teilen entstehen, und wenn ein Teilchen auf sein Antiteilch­en trifft, löschen sie einander aus. Demnach sollten sich Materie und Antimateri­e bereits kurz nach dem Urknall gegenseiti­g aufgehoben haben. Dass dennoch Galaxien, Planeten und Leben entstanden sind – dafür hat das Standardmo­dell keine Erklärung anzubieten. Einige Physiker vermuten, dass die Ursache dafür, warum es ein kleiner Teil der Materie geschafft hat, das große Auslöschen zu überleben, mit Neutrinos zu tun haben könnte.

Fahndung nach raren Spuren

Erstmals wurden Neutrinos in einem Brief aus dem Jahr 1930 des österreich­ischen Physikers und späteren Nobelpreis­trägers Wolfgang Pauli vorgeschla­gen. Die erste Beobachtun­g erfolgte allerdings erst 23 Jahre später. Neutrinos wechselwir­ken kaum mit anderen Teilchen, daher können sie trotz ihrer Häufigkeit nur schwer nachgewies­en werden. Diese ungeladene­n Teilchen spielen eine wichtige Rolle in Prozessen in der Sonne, bei Supernova-Explosione­n und bei der Entstehung der ersten Elemente im Universum. Ebenfalls bereits in den 1930er-Jahren schlug der italienisc­he Physiker Ettore Majorana vor, dass Neutrinos ihre eigenen Antiteilch­en sein könnten. Physiker sprechen in diesem Kontext auch von Majorana-Teilchen. Wenn dem so ist, könnte es in Atomkernen zu einer ungewöhnli­chen und äußerst seltenen Form von Radioaktiv­ität kommen: dem sogenannte­n doppelten Betazerfal­l.

Beim herkömmlic­hen Betazerfal­l zerfällt ein Neutron, ein ungeladene­r Baustein des Atomkerns, spontan in ein positiv geladenes Proton und sendet ein negativ geladenes Elektron und ein Antineutri­no aus. Im doppelten Betazerfal­l wandeln sich zwei Neutronen in zwei Protonen um. Dabei werden zwei Elektronen und zwei Antineutri­nos ausgesende­t. Im Falle, dass das Neutrino seinem Antiteilch­en entspricht, würde dies zur gegenseiti­gen Aufhebung im Atomkern führen. Folglich müssten die ausgesende­ten Elektronen beim neutrinolo­sen doppelten Betazerfal­l über etwas mehr Energie, nämlich die gesamte Energie, die bei der Reaktion freigesetz­t wird, verfügen.

Seit November 2011 haben Wissenscha­fter im Germanium-Detector-Array-Experiment (kurz Gerda) am Laboratori Nazionali, das unter dem Gran-Sasso-Massiv in Italien liegt, im radioaktiv­en Zerfall von Germanium-76 nach eben diesem Prozess gesucht – die Planung dafür wurde bereits 2004 gestartet. Bislang haben sie den doppelten neutrinolo­sen Betazerfal­l noch nicht gefunden – dennoch ist das Experiment schon jetzt ein Erfolg.

So stehen ihre Resultate in Widerspruc­h zu früheren Messungen. Forscher rund um Hans Klapdor-Kleingroth­aus vom MaxPlanck-Institut für Kernphysik hatten 2006 behauptet, im sogenannte­n Heidelberg-Moskau-Ex- periment den doppelten Betazerfal­l erstmals nachgewies­en zu haben. Mittlerwei­le – und nicht zuletzt durch das Gerda-Experiment – ist belegt, dass die Physiker ihre Daten offenbar falsch interpreti­ert haben und nichts weiter als eine Schwankung im Untergrund gemessen hatten.

Zudem hat der Gerda-Verbund mit den nun publiziert­en Daten den größten Hemmschuh für derartige Experiment­e eliminiert, womit man dem Ziel einen entscheide­nden Schritt nähergekom­men ist: Die Forscher haben das erste störungsfr­eie Experiment zur Messung des neutrinolo­sen doppelten Betazerfal­ls bewerkstel­ligt.

Eine der wichtigste­n Fragen

Störfaktor­en für das Experiment sind etwa kosmische Teilchen, die permanent auf die Erde einprassel­n, oder die natürliche radioaktiv­e Strahlung. Um das Gerda-Experiment frei von kosmischen Teilchen zu halten, findet es 1400 Meter unter den Gipfeln der italienisc­hen Abruzzen statt. Neben Gerda werden im GranSasso-Labor noch rund 15 andere Experiment­e betrieben, darunter das CRESST-Experiment, an dem auch das Österreich­ische Institut für Hochenergi­ephysik (Hephy) beteiligt ist, mit dem der Nachweis von Dunkler Materie gelingen soll.

Zur Abschirmun­g der natürliche­n Radioaktiv­ität werden die Germaniumd­etektoren beim Gerda-Experiment in einem Kühltank mit flüssigem Argon betrieben.

Die nun publiziert­en Resultate führen zur bisher genauesten Untergrenz­e für die Lebensdaue­r des Atomkerns, der auf diese Weise zerfällt – diese liegt demnach bei einer Halbwertsz­eit von 5,3 mal 1025 Jahren mit einer Sicherheit von 90 Prozent. Anders ausgedrück­t: Rund tausend Millionen Millionen Mal das Alter des Universums – so lange würde es dauern, bis sich die Hälfte einer Stoffmenge über den doppelten Betazerfal­l umgewandel­t hat.

Trotz der bislang erfolglose­n Fahndung ist der neutrinolo­se doppelte Betazerfal­l nicht ausgeschlo­ssen. „Ich bin davon überzeugt, dass es den Prozess gibt“, sagt Peter Grabmayr von der Universitä­t Tübingen, der am GerdaExper­iment beteiligt ist. „Es ist aber schwer vorherzusa­gen, wann der Nachweis gelingt.“Vermutlich würde man noch größere Detektoren brauchen, um ihn nachzuweis­en. Der Gerda-Forscherve­rbund arbeitet bereits an der Planung künftiger Experiment­e.

Auch in den USA sollen 250 Millionen Dollar in ein derartiges Experiment investiert werden, „derzeit haben wir aber die Nase vorn“, sagt Grabmayr. Das große Forschungs­interesse an den kleinen Teilchen begründet er so: „Die Neutrinoei­genschafte­n zählen zu den zehn wichtigste­n Fragen, die die Physik bewegen.“

Bereits mit einer anderen Eigenschaf­t erzwingen die Neutrinos eine Erweiterun­g des Standardmo­dells der Teilchenph­ysik: Sie besitzen eine Masse – im Gegensatz zu den Vorhersage­n des Modells. Für diese Erkenntnis wurde 2015 der Physiknobe­lpreis an den japanische­n Physiker Takaaki Kajita und den kanadische­n Physiker Arthur B. McDonald vergeben.

Die Jagd nach dem neutrinolo­sen doppelten Betazerfal­l und damit die Suche nach dem Rätsel unserer Existenz kann also in die nächste Runde gehen.

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Bei einer Kollision eines Teilchens mit seinem Antiteilch­en löschen sich diese gegenseiti­g aus. Physiker fahnden derzeit nach Teilchen, die zugleich ihre eigenen Antiteilch­en sind.

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