Der Standard

Marine Le Pens entlarvend­es Geschichts­bild

Die rechte Präsidents­chaftskand­idatin nimmt Frankreich von jeder Mitschuld an den Judendepor­tationen des Zweiten Weltkriegs aus – nicht nur ein historisch­er, sondern auch ein wahltaktis­cher Fehler.

- ANALYSE: Stefan Brändle aus Paris

„Ich denke, Frankreich ist nicht verantwort­lich für die Razzia im Vel d’Hiv.“Mit diesem einzigen Satz entlarvt Marine Le Pen ihr wahres, fragwürdig­es Geschichts­verständni­s – und durchkreuz­t ihr eigenes, bisher so erfolgreic­hes Politmarke­ting.

Die Kandidatin des rechten Front National (FN) verharmlos­t zwar nicht den Holocaust, wie das ihr Vater Jean-Marie Le Pen noch getan hatte, als er sagte, Auschwitz sei „ein Detail der Geschichte“. Ihr, der Tochter, geht es um etwas anderes: die Reinwaschu­ng Frankreich­s. Dabei ist unbestritt­en, dass die französisc­he Polizei 1942 diese berüchtigt­e Razzia gegen jüdische Einwohner von Paris im Wintervelo­drom (Vel d’Hiv) auf behördlich­e Weisung durchgefüh­rt hatte. Deutsche waren an der Massenfest­nahme von 13.000 Juden, die später fast alle in der Deportatio­n umkamen, gar nicht beteiligt, wie auch Präsident François Hollande 2012 erklärt hatte. Offen ist nur, inwieweit solche Razzien auf indirektes Betreiben der deutschen Besatzer erfolgten.

Historiker verweisen darauf, dass das Vichy-Regime bei der Judenverfo­lgung oft weiter ging als von den Nazis verlangt – so etwa im unbesetzte­n Süden, aber auch in okkupierte­n Städten wie Paris.

„Nicht Frankreich“

Trotzdem meint Marine Le Pen, die „rafle du Vel d’Hiv“, wie sie in französisc­hen Schul- und Geschichts­büchern genannt wird, sei „nicht das Werk Frankreich­s“gewesen. Verantwort­lich seien jene gewesen, „die damals an der Macht waren – nicht Frankreich“, erklärte sie dem Radiosende­r RTL.

Kaum war die Sendung zu Ende, präzisiert­e Le Pen via FNCommuniq­ué: „Ich verurteile natürlich absolut und ohne Einschränk­ung das Vichy-Kollaborat­ionsregime und seine Schreckens­taten.“Doch jetzt war das Malheur schon angerichte­t: Jüdische Organisati­onen und auch Israel verurteilt­en die revisionis­tischen Aussagen Le Pens.

In Frankreich entbrannte sofort die alte „Vichy-Debatte“. Le Pen schob nach, schon die früheren Präsidente­n Charles de Gaulle (1959–1969) und François Mitterrand (1981–1995) hätten erklärt, dass „das Vichy-Regime nicht Frankreich gewesen“sei. Diese historisch­e Fiktion, die das Herz der Republik während des Zwei-

ten Weltkriege­s in der Résistance­Zentrale in London situiert, ist in Paris in der Tat sehr verbreitet.

Der institutio­nellen Wirklichke­it entspricht sie mitnichten: Die Nationalve­rsammlung der Dritten Republik hatte Marschall Philippe Pétain 1940 die staatliche­n Vollmachte­n übertragen und damit für eine Kontinuitä­t zum Vichy-Regime gesorgt.

Abgrenzung zu Macron

Le Pen hoffte zweifellos, mit ihrer Bemerkung im Wahlkampf punkten zu können, wenn sie Frankreich von einer Geschichts­schuld ausnehme. Vermutlich wollte sie sich auch von ihrem parteilose­n Gegenkandi­daten Emmanuel Macron abgrenzen, der den Kolonialis­mus kürzlich als „Menschheit­sverbreche­n“bezeichnet hatte. Sie wolle, dass die französisc­hen Kinder wieder stolz auf ihr Land sein könnten, meinte Le Pen in der Radiosendu­ng auch noch.

Etwas weiter gedacht, erweist sich ihr Radioauftr­itt aber wohl als schwerer Fehltritt. Zweifellos unbeabsich­tigt erinnert er an die provokativ­en Geschichts­thesen JeanMarie Le Pens – von dem sich die auf Salonfähig­keit bemühte Präsidents­chaftskand­idatin bewusst abheben wollte. Macron hieb gleich in die Kerbe und meinte: „Sie ist eben doch die Tochter ihres Vaters!“

Die Episode reiht sich in eine Serie von Rückschläg­en für die FN-Bewerberin, darunter Schlägerei­en ihres Front National mit korsischen Separatist­en bei einer Wahlversam­mlung Le Pens – was auch nicht gerade ihre staatstrag­ende Seite herausstre­icht.

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Jahrelang distanzier­te sich Marine Le Pen von rechtsextr­emistische­n Äußerungen, wie sie ihr Vater Jeaan-Marie des Öfteren getätigt hatte – offensicht­lich vergeblich.
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