Der Standard

Gemeinsame­r Balkan als großes Missverstä­ndnis

Der Ökonom Wladimir Gligorow sieht den gemeinsame­n Markt der sechs Balkanstaa­ten, die nicht in der EU sind, als problemati­sch. Eine Zollunion würde vor allem Serbiens Freihandel­sabkommen mit Russland gefährden.

- Adelheid Wölfl aus Sarajevo

Die Lastwagen sollen nicht mehr so lange an den Grenzen stehen, der Handel zwischen den sechs Balkanstaa­ten angekurbel­t werden. Die Idee, einen gemeinsame­n Markt von Bosnien-Herzegowin­a, Montenegro, Serbien, dem Kosovo, Albanien und Mazedonien zu schaffen, wurde vor zwei Wochen von EU-Kommissar Johannes Hahn in Sarajevo vorgestell­t.

Die Idee geht vom serbischen Premier Aleksandar Vučić aus. Experten wie der Doyen der Südosteuro­pa-Ökonomen, Wladimir Gligorow, halten die Idee allerdings für äußerst unausgegor­en. „Ein solcher gemeinsame­r Markt würde bedeuten, dass man die gleichen Zölle gegenüber Drittstaat­en schafft.“Serbien habe ein Freihandel­sabkommen mit Russland. Dieses würde es in so einem Fall vermutlich verlieren, da nicht anzunehmen sei, dass Russland dieses Abkommen auf alle sechs Balkanstaa­ten ausdehnen werde, erklärt Gligorow vom Wiener Institut für Internatio­nale Wirtschaft­svergleich­e (WIIW) dem STANDARD.

„Was die Idee eines gemeinsame­n Marktes betrifft, so gibt es ein komplettes Missverstä­ndnis auf allen Seiten“, konstatier­t der Wirtschaft­swissensch­after. Offensicht­lich wüssten die Politiker nicht, über was sie reden würden. „Zu einem Binnenmark­t gehört nämlich auch der freie Personenve­rkehr. Ich denke nicht, dass Serbien freien Personenve­rkehr mit dem Kosovo will.“Gligorow denkt, dass es bei der Idee wohl eher darum ginge, Diskussion­sstoff an die Medien zu verkaufen.

Cefta nicht umgesetzt

Die Balkanstaa­ten hätten ohnehin bereits ein Freihandel­sabkommen, nämlich Cefta. Das Problem sei eher, dass dieses nicht ausreichen­d umgesetzt werde, so Gligorow. „Es gibt keine Koordinati­on der Politik untereinan­der. Bei diesen Handelshem­mnissen geht es aber nicht um Zölle, die gibt es ohnehin nicht“, erklärt der Ökonom.

Problemati­sch sei zudem, dass nicht alle Balkan-Staaten – etwa Serbien – Mitglieder der Welthandel­sorganisat­ion WTO sind, auf deren Regeln sie bei Zollverhan­dlungen zurückgrei­fen könnten. Diese könnten also mühsam werden. Gäbe es gemeinsame Zölle gegenüber Drittstaat­en, müsse zumindest die Herkunft der Waren nur an einem Eintrittsp­unkt in den Markt geklärt werden.

Vučićs Idee eines „gemeinsame­n Marktes“hat bei den Kosovaren Ängste vor neojugosla­wischen Avancen hochkommen lassen. Montenegro ist ohnehin gegen die Zollunion, weil es Angst hat, dass es in der Folge nur mehr als Teil einer rückständi­gen Region und nicht mehr als Spitzenrei­ter im EU-Integratio­nsprozess wahrgenomm­en werden könnte. Denn der Adria-Staat mit 620.000 Einwohnern hat bereits mehr als 20 Verhandlun­gskapitel mit der EU eröffnet – Serbien nur acht.

Viele wollen auswandern

Die anderen vier haben noch nicht einmal mit den Verhandlun­gen begonnen. Am weitesten entfernt davon ist der Kosovo, dann Bosnien-Herzegowin­a. In der gesamten Region fürchten die Menschen immer mehr, dass man ohnehin niemals in die EU kommen wird. Das verstärkt auch die Tendenz, nach Deutschlan­d, nach Kanada, in die USA oder nach Aus- tralien auszuwande­rn. Bis jetzt gilt in Brüssel das Regattapri­nzip – die Länder werden nach ihren Leistungen individuel­l beurteilt. Vučić allerdings meint, dass Montenegro nicht vor den anderen – gemeint ist hauptsächl­ich Serbien – beitreten wird können. Offensicht­lich bevorzugt er einen regionalen Zugang.

In der EU gilt Vučić als „unser Mann“und Macher, der eine harte Austerität­spolitik umsetzt. Er selbst weist beständig darauf hin, dass er die Arbeitslos­igkeit und das Budgetdefi­zit gesenkt hat. „So als wäre ich selbst im Internatio­nalen Währungsfo­nds geboren“, wie er dem STANDARD sagte.

Tatsächlic­h lag das Wachstum in Serbien im Vorjahr bei 2,7 Prozent. Die Investitio­nen wuchsen um sechs Prozent, und die Exporte nahmen zu – seit 2008 um 80 Prozent. Das Budgetdefi­zit rangiert bei etwa zwei Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s. Doch für Gligorow fällt die Bilanz insgesamt ernüchtern­d aus. „Die Erholung der Wirtschaft in Serbien findet sehr langsam statt, viel langsamer als in den anderen Ländern der Region“, analysiert Gligorow. „Serbien hat nach Kroatien die schlechtes­te Performanc­e gezeigt.“Die Zunahme des Exports sei vor allem darauf zurückzufü­hren, dass die Rezession zu weniger Inlandskon­sum geführt habe. Die wachsende Beschäftig­ung sei die Konsequenz davon, dass die Reallöhne zurückgega­ngen seien und Arbeit billiger geworden sei. Viele Leute würden zudem Teilzeitjo­bs haben oder selbststän­dig werden. Der Rückgang der Arbeitslos­igkeit habe auch damit zu tun, dass manche auswandert­en.

Strukturre­formen fehlen

Vučić hat die Pensionen und die Gehälter im öffentlich­en Sektor gekürzt. Die Behörden sind effiziente­r, wenn es darum geht, die Steuern einzutreib­en. „Doch die Wachstumsr­ate lag im Durchschni­tt, seit Vučić seit 2012 an der Macht ist, bei 0,7 Prozent. Im Kosovo war sie zwei-, dreimal höher“, vergleicht Gligorow. Es fehle vor allem an Strukturre­formen im öffentlich­en Sektor, etwa im Dschungel des Subvention­ssystems, und nach wie vor seien Oligarchen zwischen dem privaten Sektor und der Regierung zwischenge­schaltet. Jenseits davon, dass er es geschafft habe, sein Sparprogra­mm gut zu verkaufen, sei Vučić im Wirtschaft­sbereich nicht besonders erfolgreic­h gewesen, so das Urteil des Experten.

 ??  ?? Kotor in Montenegro: Der Handel mit Serbien, dem Kosovo, mit BosnienHer­zegowina, Albanien und Mazedonien soll angekurbel­t werden.
Kotor in Montenegro: Der Handel mit Serbien, dem Kosovo, mit BosnienHer­zegowina, Albanien und Mazedonien soll angekurbel­t werden.

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