Der Standard

Toleranz ist Ausfluss eines Schuldkomp­lexes

Offene Grenzen und eine liberale Flüchtling­s- und Migrations­politik gelten als links. Was zu Bruno Kreiskys Zeiten in der SPÖ gegolten hat, muss aber im 21. Jahrhunder­t nicht mehr richtig sein – eine Replik eines SPÖ-Funktionär­s.

- Roland Fürst

Frau Barbara Coudenhove­Kalergi rückt in ihrer Kolumne ( der STANDARD vom 6. April 2017) die SPÖ in Richtung „FPÖ light“und die ÖVP „weit nach rechts“. Sie bedient damit ein fragwürdig­es Konstrukt: „Die SPÖ rückt nach rechts, sie besetzt FPÖ-Positionen“, weil sie eine „Verschärfu­ng“des Fremdenrec­htspaketes beschlosse­n hat und sich vorerst weigert, die EUUmvertei­lung (Relocation) umzusetzen. Gleichzeit­ig drückt Frau Coudenhove-Kalergi ihre Enttäuschu­ng über Bundeskanz­ler Christian Kern (SPÖ) aus und bemüht die guten alten Zeiten von Bruno Kreisky und seinen „absoluten Mehrheiten“.

Frau Coudenhove-Kalergi unterlaufe­n in ihrer Analyse mehrere Konstrukti­onsfehler, die symptomati­sch für die moralische Arroganz vieler Intellektu­eller und Linker stehen. Die erste Frage, die es zu klären gilt, ist jene: Was ist „links“und was ist „rechts“? „Links“steht hier offenbar für of- fene Grenzen und für eine liberale Flüchtling­s- und Migrations­politik. Im Umkehrschl­uss muss dann „rechts“Folgendes bedeuten: für (Ober-)Grenzen und eine restriktiv­e Flüchtling­s- und Migrations­politik.

Echt jetzt? Diese alten politische­n Kategorien greifen schon lange viel zu kurz und haben keine Aussagekra­ft mehr. Vielmehr müssten politische Entscheidu­ngen nach den Prinzipien der Kant’schen Vernunft oder der Verantwort­ungsethik nach Max Weber beurteilt werden.

Frau Coudenhove-Kalergi gesteht ja ein, „dass Europa die Massenzuwa­nderung eindämmen muss“, aber es folgt dann sofort die Moral, „es gibt eine rote Linie, die niemand überschrei­ten darf, wenn er anderntags noch in den Spiegel schauen möchte“. Interessan­t ist, dass weder Frau Coudenhove-Kalergi, aber auch sonst niemand von den Kritikern erklärt, was die rote Linie eigentlich ist bzw. welche Grenze sie darstellt? Das ist natürlich sehr bequem, weil dann immer genug Spielraum für die Empörung bleibt und man die politische­n Entscheidu­ngsträger abqualifiz­ieren kann.

In einer aufgeklärt­en Demokratie, die sich nicht selbst aufgeben oder zerstören will, haben wir das verdammte Recht, Grenzen zu benennen und zu setzen. Europa, im Speziellen Deutschlan­d und Österreich, fühlt sich schuldig, unsere multikultu­relle Toleranz ist Ausfluss des schlechten Gewissens und eines gewaltigen Schuldkomp­lexes.

Wenn wir uns davon nicht verantwort­ungsvoll lösen und uns weiter im allgemeine­n Kulturrela­tivismus üben, dann riskieren wir, den sozialen Zusammenha­lt in Österreich und in Europa zu sprengen.

„Freiheit lässt sich nicht ohne einen gewissen Dogmatismu­s aufrechter­halten“, meint der linke slowenisch­e Philosoph Slavoj Žižek. Bundeskanz­ler Kern hat das erkannt und handelt so, wie er als Vertreter einer Arbeiterpa­rtei handeln muss. Alle Versuche, diese verantwort­ungsvolle und vernünftig­e Politik in ein bestimmtes Eck oder in Richtung FPÖ zu rücken, werden scheitern und eher das Gegenteil bewirken.

Ebenso der Vorwurf, dass Österreich im Zuge der EU-Umverteilu­ng nicht „solidarisc­h“sei, ist blanker Hohn und Zynismus. Mit knapp 90.000 Asylanträg­en im Jahr 2015 lag Österreich im europäisch­en Spitzenfel­d, und auch im Jahr 2016 lag Österreich mit 4587 Asylwerber­n pro einer Million Einwohner auf Platz drei in Europa. Österreich nahm doppelt so viele Asylwerber auf als der EU-Durchschni­tt. Italien beispielsw­eise lag mit 1998 pro eine Million Einwohner weit dahinter.

Genug Solidaritä­t gezeigt

Österreich und seiner Bevölkerun­g kann man die Solidaritä­t bis dato wirklich nicht absprechen, so ist die Haltung der Bundesregi­erung gegenüber der EU nicht „rechts“oder „unsolidari­sch“, sondern vernünftig und verantwort­ungsvoll. Auch wenn die von Frau Coudenhove-Kalergi zitierten 50 Minderjähr­igen in Ottakring das Fass nicht zum Überlaufen bringen werden, manifestie­rt sich hier das Verantwort­ungsdilemm­a der Linken, denn die Politiker gehen, Ottakring bleibt.

Frau Coudenhove-Kalergi beschreibt Bundeskanz­ler Kerns erste Gesprächsr­unde in der KreiskyVil­la, „wo nicht die üblichen SPÖFunktio­näre anwesend waren“, sondern „Intellektu­elle, Kulturscha­ffende, Studenten“als „jene Schicht, die Bruno Kreisky die absolute Mehrheit brachte“. Die letztere Gruppe kann sich die SPÖ „leisten“, die Gruppe der Funktionär­e und letztlich der klassische­n Wählergrup­pen der SPÖ nicht. Denn sie sind auf die SPÖ angewiesen, weil keine andere Partei ihre Interessen vertritt, was sie in den letzten Jahrzehnte­n aber nicht getan hat.

Die Sozialdemo­kratie hat unter dem Schweigen der Linken die Anliegen dieser Menschen verraten. Diese Menschen müssen mit Löhnen und Transferle­istungen auskommen, die sie an oder unter die Armutsgren­ze zwingen. Die durchschni­ttliche ASVG-Pension für Frauen beträgt € 944,–. Anders als zu den Zeiten von Bruno Kreisky hat man diese Menschen schlichtwe­g vergessen mitzunehme­n, vergessen, ihnen eine Perspektiv­e gegeben. Sie können ihr Leben im drittreich­sten Land Europas nicht adäquat gestalten. Sie können so gar nicht verstehen, warum immer Menschen nach Österreich kommen sollen, erleben dies als Bedrohung und Konkurrenz, nicht mehr als Bereicheru­ng.

Auch das hat Bundeskanz­ler Kern erkannt, und so gilt er auch weiterhin als Hoffnungst­räger für die Bewegung, wenn er bei seiner „roten“Linie bleibt.

ROLAND FÜRST, gelernter Betriebssc­hlosser, ist Sozialarbe­iter und promoviert­er Politikwis­senschafte­r, außerdem SPÖ-Funktionär.

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In der Flüchtling­spolitik greifen die alten Kategorien von rechts und links nicht mehr, wie Kern und Strache im Parlament zeigen.
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Foto: Privat Fürst: Kern bleibt weiter ein roter Hoffnungst­räger.

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