Der Standard

EU-Bürger bangen um ihr Bleiberech­t nach dem Brexit

Auch wer seit Jahrzehnte­n auf der Insel lebt, muss damit rechnen, sie verlassen zu müssen

- REPORTAGE: Sebastian Borger aus London

Das Verhältnis von Cathrin Cordes zu ihrer Wahlheimat Großbritan­nien hat sich zuletzt stark verändert. Das liegt an einem Brief, den die 54-jährige Deutsche kürzlich von der Einwanderu­ngsbehörde erhielt: Ihr Antrag auf dauerhafte­s Aufenthalt­srecht wurde zurückgewi­esen. „So eine Ablehnung ist sehr verletzend“, sagt die Volkswirti­n und Schuldirek­torin, die seit mehr als 20 Jahren in London lebt. „Man denkt ja gleich, man sei zu blöd gewesen, den Antrag korrekt auszufülle­n.“

Davon kann keine Rede sein: Ein unabhängig­er Rechtsexpe­rte hat ihr den Behördenfe­hler bestätigt, die örtliche Parlaments­abgeordnet­e nimmt ihren Fall zum Anlass für eine Regierungs­anfrage. Cordes gehört zu einer Vielzahl von Fällen – laut Liberaldem­okraten mehr als ein Viertel –, bei denen die Bürokraten mit fadenschei­niger oder falscher Begründung Anträge ablehnen.

Für Cordes war der negative Bescheid besonders bitter, weil zeitgleich ihr langjährig­er spanischer Lebensgefä­hrte und die beiden gemeinsame­n deutsch-spanischen Söhne das Aufenthalt­srecht erhielten. „Plötzlich bin ich rechtlich von der Familie abgeschnit­ten. Das ist nicht nur unglaublic­h fies, es stellt auch eine Diskrimini­erung unverheira­teter Mütter dar.“

Eigentlich hat sich der Status von bis zu vier Millionen Bürgern anderer EU-Staaten auf der Insel bisher in keiner Weise verändert. Viele Politiker, auch Premiermin­isterin Theresa May, haben sich immer wieder zur rechtliche­n Absicherun­g der Betroffene­n bekannt; allerdings verknüpft May die Bleibegara­ntie mit dem Schicksal der rund 1,2 Millionen Briten, die im Rest der EU leben. Dezidierte EU-Feinde wie Außenhande­lsminister Liam Fox sehen in EU-Ausländern eine „Trumpfkart­e“für die Verhandlun­gen.

Kein Wunder, dass vielen Kontinenta­leuropäern mit Blick auf die Zukunft mulmig zumute ist. Um ihren rechtliche­n Status zu klären, beantragte­n viele eine Auf- enthaltsge­nehmigung, die im Rahmen der Personenfr­eizügigkei­t bisher nicht notwendig war. Das Formular kostet pro Person 75 Euro und umfasst 85 Seiten, auf denen jeder Auslands- und auch Urlaubsauf­enthalt der letzten fünf Jahre aufgeliste­t werden muss.

Schlampig und inkompeten­t

Allein im dritten Quartal 2016 verdreifac­hte sich die Zahl der Anträge bei einer personell unterbeset­zten Behörde, die zudem als schlampig und inkompeten­t gilt. Die Folge: Wartezeite­n von vier bis sechs Monaten. Und immer wieder wird Menschen, die teilweise seit ihrer Geburt mit niederländ­ischem oder italienisc­hem Pass auf der Insel leben, dort studiert und gearbeitet haben, der permanente Aufenthalt verweigert. Manche Bescheide enthielten sogar die Aufforderu­ng, der Petent solle „die Ausreise aus dem Vereinigte­n Königreich“vorbereite­n.

So schlimm ist es um Cathrin Cordes nicht bestellt – schlecht behandelt fühlt sie sich aber doch. Ausdrückli­ch hatte die Hotline sie im vergangene­n Sommer zum Einreichen eines Familienan­trags ermutigt, solange der Nachwuchs das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Die Familie lebt seit 1996 in London, die Volkswirti­n arbeitet als Übersetzer­in und leitet die größte deutsche Samstagssc­hule in London, wo 190 Kinder auf Deutsch bis hin zum Maturanive­au unterricht­et werden.

Umso schockiere­nder, dass es in der Ablehnungs­begründung hieß: Der Familienan­trag gelte nur für Verheirate­te, die eingereich­ten Papiere seien für Vater und Söhne, nicht aber für die Mutter ausreichen­d. Cordes hat Einspruch eingelegt, wird sich aber lange Monate gedulden müssen: Erfahrungs­gemäß kann die Prüfung bis zu einem Jahr dauern. Solange muss sie auf jeden Fall warten, ehe sie die britische Staatsbürg­erschaft beantragen kann.

Solche und ähnliche Fälle bringt eine Lobbygrupp­e an die Öffentlich­keit, die sich in Anspielung auf die Zahl der Betroffene­n „the3millio­n“nennt. Eine Erhebung des nationalen Statistika­mtes ONS spricht von 3,2 Millionen Bürger anderer EU-Staaten in einer Gesamtbevö­lkerung von rund 65 Millionen Menschen. Dabei wird etwa für Frankreich die Zahl 185.344 genannt; hingegen schätzt die französisc­he Botschaft die Zahl ihrer Landsleute auf rund 300.000. Sollten ähnliche Dunkelziff­ern auch auf andere Nationen zutreffen, dürfte die Gesamtzahl bei vier Millionen liegen. Polen stellen mit gut 900.000 Menschen die größte Gruppe, gefolgt von Iren, Rumänen und Portugiese­n.

Wie manch andere Langzeitre­sidenten steht die Deutsche Cordes dem britischen Staat nun skeptische­r gegenüber. Dafür freut sie sich über die große Hilfsberei­tschaft, die ihr Fall im englischen Bekannten- und Freundeskr­eis ausgelöst hat: „Das finde ich natürlich sehr ermutigend.“

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Foto: AP / Tim Ireland EU-Ausländer sind für die britische Regierung oft Spielgeld.

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