Kaliforniens Freiheit gegen Gebühr
Mehr als 63 Prozent aller Insassen in Kaliforniens County-Gefängnissen sind nicht verurteilt. Human Rights Watch macht in einem Bericht vor allem das Kautionssystem des Bundesstaates dafür verantwortlich.
Los Angeles / Wien – David Gonzales war 19 Jahre alt, als er im Vorjahr verhaftet und ins OrangeCounty-Gefängnis in Kalifornien verfrachtet wurde. Als er am nächsten Tag dem Haftrichter vorgeführt wurde, erfuhr er, was ihm vorgeworfen wurde: Er soll ein Mädchen vergewaltigt haben. Der Richter setzte eine Kaution von 100.000 US-Dollar fest.
Doch Gonzales beteuerte seine Unschuld. Er habe das Wochenende vor der Tat Sex mit dem Mädchen gehabt. Das Opfer selbst war von der Polizei nie zu Gonzales befragt worden. Als das Mädchen ihn schlussendlich entlastete, war Gonzales drei Monate in Haft gewesen. Er verpasste das erste Semester an der Universität, weil sich seine Familie die Kaution nicht leisten konnte.
Arm und Reich
Der Fall ist exemplarisch für das kalifornische Kautionssystem, stellt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) in ihrem am Dienstag veröffentlichten Bericht fest. „Es teilt die Gesellschaft in Arm und Reich“, sagt John Raphling, der den Bericht endverantwortet hat. Kann eine Person die Kaution stellen, so kann sie sich von zu Hause aus auf ihr Verfahren vorbereiten. Das bedeutet, dass sie zu Gerichtsterminen nicht in Gefäng- niskleidung, sondern im eigenen Gewand erscheinen und außerdem den Anwalt öfter treffen kann. Viele Leute leihen sich auch das Geld von Kautionsagenten, die meistens Gebühren in Höhe von um die zehn Prozent verlangen – die nicht rückerstattet werden.
In den Jahren 2011 bis 2015 nahm die kalifornische Polizei fast 1,5 Millionen Verhaftungen vor. Ein Drittel der Verhafteten wurde niemals für schuldig befunden. Trotzdem saßen manche Wochen, Monate oder Jahre hinter Gittern. Mehr als 63 Prozent der Insassen in Kaliforniens CountyGefängnissen sind laut Bericht nicht verurteilt. In sechs Countys kostete die Inhaftierung von Personen, die nicht angeklagt wurden, in zwei Jahren 37,5 Millionen Dollar (35,4 Millionen Euro).
Laut Gesetz hat jeder Verhaftete das Recht, binnen 48 Stunden einem Richter vorgeführt zu werden. „Das kann in der Realität bis zu fünf Tage dauern, weil Wochenenden und Feiertage nicht gezählt werden“, sagt Raphling. „Tage, in denen vielleicht das Kind nicht versorgt oder die Mutter nicht gepflegt werden kann.“
Entscheidet schließlich der Staatsanwalt, dass angeklagt wird, dauert es bei geringeren Vergehen 30 Tage, bei schweren Verbrechen 90 Tage bis zum Prozessstart. Zeit, die der Angeklagte im Gefängnis verbringen muss, wenn er die Kaution nicht stellen kann. „Untersuchungen zeigen, dass viele Betroffene auf schuldig plädieren und einen Deal mit der Staatsanwaltschaft eingehen, nur um aus der Haft entlassen zu werden“, sagt Raphling. Zwischen 71 und 91 Prozent aller Beschuldigten werden laut HRW vor dem frühestmöglichen Verfahrensbeginn entlassen. Also noch bevor sie vor Gericht ihre Unschuld beweisen könnten.
Heftige Kritik übt die NGO an der Höhe der Kautionen. So folgen die meisten Richter in Kalifornien einer Liste, die für jedes Vergehen einen bestimmten Geldbetrag anzeigt. Dabei müssen sich Richter darauf nicht verlassen, sondern können die persönlichen Umstände des Beschuldigten berücksichtigen. Im HRW-Bericht sagte ein Richter, dass es aber „schneller und einfacher“sei, sich an die Liste zu halten. Um das System fairer zu machen, plädiert Raphling für individuelle Anhörungen der Betroffenen: „Haft vor einem Prozess darf nur in wenigen Ausnahmefällen verhängt werden.“