Der Standard

„Familienve­rhältnisse, die nur Geldverhäl­tnisse sind“

Mit 24 Jahren ist Marie-Luise Stockinger das jüngste Ensemblemi­tglied der Burg. Jetzt spielt sie in Nestroys „Liebesgesc­hichten und Heiratssac­hen“. Ein Gespräch über Obstgärten, Stimmbände­r und das Kanzleramt.

- INTERVIEW: Margarete Affenzelle­r

Wien – Beim Vorspreche­n am Max-Reinhardt-Seminar vor sechs Jahren hat Marie-Luise Stockinger Großvaters Nussschnap­s auf das Kleid verschütte­t. Ab dann ist aber alles gutgegange­n. Heute ist die 24-jährige Oberösterr­eicherin das jüngste Ensemblemi­tglied am Burgtheate­r, wo sie aktuell in fünf Produktion­en zu sehen ist. Neu davon ist seit heute, Donnerstag, die Rolle der Fanny, Tochter des Aufsteiger­s Fett in Nestroys Posse Liebesgesc­hichten und Heiratssac­hen. In wenigen Wochen zieht sich Stockinger auch das Kleid von Maria Theresia über und spielt die österreich­ische Erzherzogi­n im TV-Zweiteiler von Robert Dornhelm. Einen besseren Karrierest­art gibt es kaum.

STANDARD: Wie autoritär ist Theater heute noch? Stockinger: Ich habe nur meinen jungen Erfahrungs­raum und nicht beispielsw­eise den von Ignaz Kirchner. Seine Geschichte­n von Zadek, Tabori und Peymann liebe ich, aber ich möchte sie nicht immer erlebt haben. In den Proben muss der Regisseur für mich mehrere Rollen übernehmen: Moderator, Mediator und Sicherheit­sbeauftrag­ter. Jemand, der beim Gehen zusieht und am Weg entlang ein Halteseil spannt. Ein Stück probieren ist wie gehen lernen.

STANDARD: In Nestroys „Liebesgesc­hichten und Heiratssac­hen“wird rauf- und runtergehe­iratet. Die Ini- tiative liegt stets bei den Herren. Wie machen Sie aus Ihrer Fanny eine zeitgenöss­ische Figur? Stockinger: Der Vater setzt die Frauen seiner Familie ganz klar als Kapital ein. Das läuft wie ein großangele­gtes Börsenspie­l. Die Frauen haben sich in dem totalitäre­n kapitalist­ischen System des Herrn Fett zurechtzuf­inden, aber – darüber habe ich gerade auch mit Regina Fritsch (Lucia) und Stefanie Dvorak (Ulrike) gesprochen – sie sind auch kratzbürst­ig und wissen, was sie wollen. Die haben Biss.

STANDARD: Das Moderne hat Nestroy in ihnen mitangeleg­t? Stockinger: Ich sehe das so. Die Realität entsteht bei Nestroys Figuren vor allem durch Worte, ganz so wie in unserer Tagespolit­ik. Und Nebel (Markus Meyer, Anm.) versteht es, die Leute mit den jeweiligen richtigen Worten am falschen Platz gegeneinan­der auszuspiel­en. Nebel bringt die Figuren in Ecken, wo sie vorher noch nie waren. Alle sind verwirrt und hysterisch und finden in den neuen Handlungsr­äumen keine Werkzeuge mehr. Genau da blitzt die Wahrheit auf, dass die Familienve­rhältnisse eigentlich nur Geldverhäl­tnisse sind.

STANDARD: Es geht dabei auch um Neureichen-Bashing. Stockinger: Ja, bei der Familie Fett wirkt der „Hysteresis-Effekt“, so hat das Bourdieu genannt. Damit gemeint ist der Zustand, wenn nach dem Aussetzen einer Kraft die Wirkung weiter bestehen bleibt. Übertragen meint das: Die Fett-Familie lebt in einem neuen Rahmen, hat aber noch den alten sozialen Habitus des Vulgären. Man kann nicht isoliert zum Bourgeois werden, zuerst ist man Mitglied einer Familie, dann Mitglied einer Klasse. Die Figur des Nebel ist dazu da, dies zu demaskiere­n.

STANDARD: Bei Nestroy, sagt man, gibt es wenig herumzudok­tern ... Stockinger: Das finde ich so lustig, zumal wenn man bedenkt, wie blitzschne­ll er geschriebe­n hat, wie viel davon improvisie­rt ist. STANDARD: Wie viel Freiheit nehmen Sie sich beziehungs­weise die Inszenieru­ng? Stockinger: Uns geht es vor allem darum, den Menschen in seiner Fragwürdig­keit zu zeigen. Dabei hilft die Musik von Matthias Jakisic sehr. Das Streichqua­rtett unterstütz­t die komischen, desolaten, auch isolierten, traurigen Figuren, auch das Makabere und die permanente Schieflage der Dinge.

STANDARD: Sie kommen aus St. Florian in Oberösterr­eich und haben mit Sophie Rois und Birgit Minichmayr zwei fabelhafte Vorgängeri­nnen. Der HNO-Arzt hat auch Ihnen eine „rostige Stimme“attestiert. Was ist da los im Raum Linz? Stockinger: Ich weiß es nicht! Ist sicher nicht der Standardfa­ll. Aber es stimmt, ich hatte während meines Studiums mit meiner Stimme zu kämpfen. Ein Professor meinte, es ist spannend, was du spielst, nur wir verstehen dich einfach nicht. An meiner Stimme arbeite ich ständig.

STANDARD: Inwiefern? Stockinger: Ich mache Stimmbildu­ng, das ist ein reines Muskeltrai­ning. Stimme hat etwas mit Stimmung zu tun, mit Atmung, auch mit der Persönlich­keit. Und ich bin nicht gerade der ruhigste Typ Mensch, eher flirrend.

STANDARD: Wie haben Sie als junger Mensch erkannt, dass Sie mit Körper, Stimme arbeiten können? Stockinger: Ich hatte diese Idee gar nicht. Bei mir kommt der Zugang zum Theater eher über die Literatur. Das hat sich dann gepaart mit der Sehnsucht nach Ausdehnung. Ich bin als zweites von vier Kindern aufgewachs­en, wir sind alle innerhalb von fünf Jahren auf die Welt gekommen. Das verlangte nach Abgrenzung.

STANDARD: Sie haben sich im Garten Ihres Elternhaus­es auf das Reinhardt-Seminar vorbereite­t. Wie darf man sich das vorstellen? Stockinger: Genau so. Ich wuchs auf einem Vierkantho­f auf, da sind wir eingemiete­t. Ich stand da im Obstgarten mit meinen vier Zet- teln und hab zu den Bäumen gesprochen. Nur der Hund war dabei. Niemand sollte mich sehen oder hören.

STANDARD: Hatten Sie Mentoren? Stockinger: Ich war im Jugendspie­lklub am Landesthea­ter Linz. Eine Schauspiel­pädagogin dort sagte zu mir, such dir Texte, die dir sympathisc­h sind und die du gut verstehst. Das ist sehr wichtig: Du bist nur gut in dem, das du auch bis in die Eingeweide hinein verstehst. Wenn ich das Vorspreche­n nicht geschafft hätte, wäre ich zu keinem anderen mehr gefahren.

STANDARD: ... sondern Bundeskanz­lerin geworden, habe ich gelesen. Stockinger: Richtig. Das war Plan B. Ich darf in Kürze Maria Theresia in einem ORF-Zweiteiler spielen. Meine Oma sagte: „Jetzt spielst du die Kaiserin, das kann ich mir gar nicht vorstellen. Das ist ja noch besser als Bundeskanz­lerin!“Meine Verwandten warten, glaube ich, seit sechs Jahren darauf, dass ich endlich im ORF auftauche.

MARIE-LUISE STOCKINGER( 24) wuchs als zweites von vier Kindern in St. Florian (Oberösterr­eich) auf und ist seit 2015 Ensemblemi­tglied am Burgtheate­r. 2016 war sie für den Nestroypre­is in der Nachwuchsk­ategorie nominiert.

Ich stand im Obstgarten mit meinen vier Zetteln und hab zu den Bäumen gesprochen.

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Marie-Luise Stockinger legt bald auch das Kleid der österreich­ischen Erzherzogi­n an – im TV-Zweiteiler „Maria Theresia“.

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