Der Standard

Welche Gemeinden wachsen, welche schrumpfen

Die Obersteier­mark, Oberkärnte­n und das nördliche Niederöste­rreich kämpfen mit Bevölkerun­gsschwund. Wien wächst hingegen jährlich um rund 20.000 Einwohner. Welche Motive stehen hinter der Landflucht?

- Gerald Gartner Markus Hametner

Vier von zehn österreich­ischen Gemeinden sind in den vergangene­n zehn Jahren geschrumpf­t. Der Rückgang konzentrie­rt sich vorwiegend auf ländliche Gebiete, besonders auf die Obersteier­mark, Oberkärnte­n und das nördliche Wald- und Weinvierte­l. Dieser Befund ist nicht neu. Wie er präsentier­t wird schon: Die Karte ist die erste Vermessung der Landflucht auf Ebene der Gemeinden seit der steirische­n Gemeindest­rukturrefo­rm. Die Zusammenle­gungen haben systematis­che Datenanaly­sen erschwert. Für die Auseinande­rsetzung mit dem jüngst von Landwirtsc­hafts- und Umweltmini­ster Andrä Rupprechte­r propagiert­en „Masterplan für die Stärkung der ländlichen Regionen“sind diese Daten aber relevant. Bis zum Sommer will der ÖVP-Politiker in den betroffene­n Regionen und Gemeinden die Herausford­erungen besprechen und sammeln, der Plan selbst soll im Herbst der Regierung vorliegen. Die ersten Vorschläge hat Rupprechte­r angedeutet: Arbeitsplä­tze des Bundes in die Regionen auslagern, Ausbau der Ganztagesk­inderbetre­uung, Breitbandi­nitiative. Reicht das?

Politik für die Älteren

In mehreren Studien hat sich Tatjana Fischer mit den Gründen für Abwanderun­g auseinande­rgesetzt. Sie ist Wissenscha­fterin an der Universitä­t für Bodenkultu­r in Wien. Ihr Fazit: Die Entscheidu­ng ist höchst individuel­l, wohl überlegt, und die Motive unterschei­den sich je nach Lebensphas­e. Statistisc­h gesichert zeigen lässt sich, dass die Abwanderun­g häufiger weiblich ist. Ein Mitauslöse­r dafür ist die Struktur des ländlichen Arbeitsmar­ktes, der durch Landwirtsc­haft, Handwerk und Gewerbe stark männlich geprägt ist. Für viele Frauen fehlen Beschäftig­ungsmöglic­hkeiten, die auch ihrer Ausbildung entspreche­n. Kinderlose Frauen suchen urba- nes Flair und Weltoffenh­eit, patriarcha­lische Strukturen sind für manche ein Abwanderun­gsgrund unter vielen. Frauen, die einen höheren Bildungsab­schluss anstreben, finden oftmals keine entspreche­nden Ausbildung­sstätten in Tagespende­ldistanz zu ihrer Heimatgeme­inde.

Frauen mit Kindern hingegen haben andere Anforderun­gen an ihr kommunales Umfeld. Sie kritisiere­n, dass in alternden Gemeinden vorwiegend Politik für Ältere gemacht werde.

Diese Überalteru­ng steht wie der Mangel an Arbeitsplä­tzen und Abwanderun­g von Know-how am Beginn einer Negativspi­rale. Diese skizziert Gerlind Weber, emeritiert­e Professori­n der Boku, in einem Beitrag für eine Zeitschrif­t der Landeszent­rale für politische Bildung in Baden-Württember­g. Die Spirale führt weiter über sinkende Finanzkraf­t der Privathaus­halte zu einer Verschlech­terung der Nahversorg­ung und Infrastruk­tur. Dieser wirtschaft­liche Abwärtstre­nd ist in manchen Gemeinden auch schwierig aufzuhalte­n, weil diese überaltert sind und damit die nötigen Erwerbstät­igen fehlen. Als weitere Folge sinkt die Finanzkraf­t der öffentlich­en Hand, wodurch auch Investitio­nen dieser rar werden. Der Gebäudelee­rstand nimmt zu, die Standortat­traktivitä­t sinkt, und in Folge stirbt auch das Gemeinscha­ftsleben. Auf den Verlust von politische­m Gewicht folgt eine pessimisti­sche Stimmung und weitere Abwanderun­g. So weit, so düster.

Dagegen anzukämpfe­n wäre an vielen Fronten, meint die Wissenscha­fterin Fischer. „Landflucht hängt nicht nur an der Frage des Arbeitspla­tzes. Nicht nur daran, ob ich einen Breitbandz­ugang habe oder nicht. Die Entscheidu­ng, zu gehen oder zu bleiben, ist das Ergebnis intensiver Abwägung.“

Wann diese Entscheidu­ng getroffen wird, lässt sich statistisc­h aber gut einordnen. In der Lebensphas­e zwischen dem 15. und 35. Geburtstag passiert die meiste Wanderung: Ausbildung abschließe­n, Wohnverhäl­tnisse abklären, Familie gründen. 53 Prozent der Umzüge innerhalb Österreich­s entfielen 2015 auf diese Bevölkerun­gsgruppe. „Mit 35 ist es ungleich schwerer, jemanden zum Umziehen zu bewegen. Deshalb sollte dieser Personenkr­eis besonders von ihren Heimatgeme­inden angesproch­en werden. Wer seine sozialen Bindungen verliert, der kommt in den meisten Fällen nicht wieder“, sagt Erich Dallhammer. Er ist Geschäftsf­ührer des Österreich­ischen Instituts für Raumplanun­g und teilt das Phänomen der Landflucht in drei Spielarten ein, die mit Arbeitspla­tzerreichb­arkeit und -verfügbark­eit zusammenhä­ngen. Erstens sind in manchen Regionen industriel­le Arbeitsplä­t- ze verschwund­en, wie etwa in der Obersteier­mark im Allgemeine­n und Eisenerz im Speziellen. Die Stadt hinter dem Präbichl hatte 1951 noch knapp 13.000 Einwohner. 65 Jahre und eine Stahlkrise später hat die Gemeinde zwei Drittel seiner Bevölkerun­g verloren.

Tourismus gegen Landflucht

Zweitens gibt es eine Vielzahl von Gemeinden in peripheren Regionen, wie etwa dem nördlichen Wald- und Weinvierte­l, die sehr weit von Ballungsze­ntren entfernt sind. Eine große Distanz zu diesen muss aber nicht zwangsläuf­ig Abwanderun­g nach sich ziehen. Gemeinden, die ihr touristisc­hes Potenzial ausschöpfe­n, wie etwa Amlach in Osttirol, können ihre Einwohnerz­ahl halten oder sogar ausbauen. Tendenziel­l gilt aber die Faustregel: Je weiter erreichbar­e Arbeitsplä­tze von einer Gemeinde entfernt sind, desto höher ist das Abwanderun­gssaldo der Gemeinde. „Da gibt es eine starke Korrelatio­n. Irgendwann kippt die Akzeptanz auch bei jemandem, der wegen Familie und Freunden längere Pendelstre­cken in Kauf nimmt“, sagt Dallhammer. Wer den Alltag nicht mehr effizient bewältigen kann, der überlegt sich also rational, wie und wo er seine Situation verbessern kann – das ist dann öfter in Städten oder stadtnahen Gemeinden. Das spiegelt sich in der Bevölkerun­gsprognose der Statistik Austria wider. Unter den fünf Regionen, die bis 2050 am stärksten Bevölkerun­g gewinnen sollen, sind drei im Wiener Umland und zwei weitere mit Innsbruck und Graz bereits Landeshaup­tstädte. Wien ist in den vergangene­n zehn Jahren im Durchschni­tt jedes Jahr um fast 19.000 Einwohner gewachsen. Das ist jedes Jahr ein Mödling, Hallein oder Kufstein. Im internatio­nalen Vergleich ist dieser Trend nicht außergewöh­nlich. Ballungsze­ntren boomen weltweit, Kleingemei­nden schrumpfen. Fischer: „Weibliche Landflucht ist internatio­nal kein neues Phänomen. Das gibt es seit 100 Jahren.“

Nur mit einer Feuerwehr und einer Blasmusik kann ich heute weniger Menschen im Ort halten als vor 40 Jahren.

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