Welche Gemeinden wachsen, welche schrumpfen
Die Obersteiermark, Oberkärnten und das nördliche Niederösterreich kämpfen mit Bevölkerungsschwund. Wien wächst hingegen jährlich um rund 20.000 Einwohner. Welche Motive stehen hinter der Landflucht?
Vier von zehn österreichischen Gemeinden sind in den vergangenen zehn Jahren geschrumpft. Der Rückgang konzentriert sich vorwiegend auf ländliche Gebiete, besonders auf die Obersteiermark, Oberkärnten und das nördliche Wald- und Weinviertel. Dieser Befund ist nicht neu. Wie er präsentiert wird schon: Die Karte ist die erste Vermessung der Landflucht auf Ebene der Gemeinden seit der steirischen Gemeindestrukturreform. Die Zusammenlegungen haben systematische Datenanalysen erschwert. Für die Auseinandersetzung mit dem jüngst von Landwirtschafts- und Umweltminister Andrä Rupprechter propagierten „Masterplan für die Stärkung der ländlichen Regionen“sind diese Daten aber relevant. Bis zum Sommer will der ÖVP-Politiker in den betroffenen Regionen und Gemeinden die Herausforderungen besprechen und sammeln, der Plan selbst soll im Herbst der Regierung vorliegen. Die ersten Vorschläge hat Rupprechter angedeutet: Arbeitsplätze des Bundes in die Regionen auslagern, Ausbau der Ganztageskinderbetreuung, Breitbandinitiative. Reicht das?
Politik für die Älteren
In mehreren Studien hat sich Tatjana Fischer mit den Gründen für Abwanderung auseinandergesetzt. Sie ist Wissenschafterin an der Universität für Bodenkultur in Wien. Ihr Fazit: Die Entscheidung ist höchst individuell, wohl überlegt, und die Motive unterscheiden sich je nach Lebensphase. Statistisch gesichert zeigen lässt sich, dass die Abwanderung häufiger weiblich ist. Ein Mitauslöser dafür ist die Struktur des ländlichen Arbeitsmarktes, der durch Landwirtschaft, Handwerk und Gewerbe stark männlich geprägt ist. Für viele Frauen fehlen Beschäftigungsmöglichkeiten, die auch ihrer Ausbildung entsprechen. Kinderlose Frauen suchen urba- nes Flair und Weltoffenheit, patriarchalische Strukturen sind für manche ein Abwanderungsgrund unter vielen. Frauen, die einen höheren Bildungsabschluss anstreben, finden oftmals keine entsprechenden Ausbildungsstätten in Tagespendeldistanz zu ihrer Heimatgemeinde.
Frauen mit Kindern hingegen haben andere Anforderungen an ihr kommunales Umfeld. Sie kritisieren, dass in alternden Gemeinden vorwiegend Politik für Ältere gemacht werde.
Diese Überalterung steht wie der Mangel an Arbeitsplätzen und Abwanderung von Know-how am Beginn einer Negativspirale. Diese skizziert Gerlind Weber, emeritierte Professorin der Boku, in einem Beitrag für eine Zeitschrift der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg. Die Spirale führt weiter über sinkende Finanzkraft der Privathaushalte zu einer Verschlechterung der Nahversorgung und Infrastruktur. Dieser wirtschaftliche Abwärtstrend ist in manchen Gemeinden auch schwierig aufzuhalten, weil diese überaltert sind und damit die nötigen Erwerbstätigen fehlen. Als weitere Folge sinkt die Finanzkraft der öffentlichen Hand, wodurch auch Investitionen dieser rar werden. Der Gebäudeleerstand nimmt zu, die Standortattraktivität sinkt, und in Folge stirbt auch das Gemeinschaftsleben. Auf den Verlust von politischem Gewicht folgt eine pessimistische Stimmung und weitere Abwanderung. So weit, so düster.
Dagegen anzukämpfen wäre an vielen Fronten, meint die Wissenschafterin Fischer. „Landflucht hängt nicht nur an der Frage des Arbeitsplatzes. Nicht nur daran, ob ich einen Breitbandzugang habe oder nicht. Die Entscheidung, zu gehen oder zu bleiben, ist das Ergebnis intensiver Abwägung.“
Wann diese Entscheidung getroffen wird, lässt sich statistisch aber gut einordnen. In der Lebensphase zwischen dem 15. und 35. Geburtstag passiert die meiste Wanderung: Ausbildung abschließen, Wohnverhältnisse abklären, Familie gründen. 53 Prozent der Umzüge innerhalb Österreichs entfielen 2015 auf diese Bevölkerungsgruppe. „Mit 35 ist es ungleich schwerer, jemanden zum Umziehen zu bewegen. Deshalb sollte dieser Personenkreis besonders von ihren Heimatgemeinden angesprochen werden. Wer seine sozialen Bindungen verliert, der kommt in den meisten Fällen nicht wieder“, sagt Erich Dallhammer. Er ist Geschäftsführer des Österreichischen Instituts für Raumplanung und teilt das Phänomen der Landflucht in drei Spielarten ein, die mit Arbeitsplatzerreichbarkeit und -verfügbarkeit zusammenhängen. Erstens sind in manchen Regionen industrielle Arbeitsplät- ze verschwunden, wie etwa in der Obersteiermark im Allgemeinen und Eisenerz im Speziellen. Die Stadt hinter dem Präbichl hatte 1951 noch knapp 13.000 Einwohner. 65 Jahre und eine Stahlkrise später hat die Gemeinde zwei Drittel seiner Bevölkerung verloren.
Tourismus gegen Landflucht
Zweitens gibt es eine Vielzahl von Gemeinden in peripheren Regionen, wie etwa dem nördlichen Wald- und Weinviertel, die sehr weit von Ballungszentren entfernt sind. Eine große Distanz zu diesen muss aber nicht zwangsläufig Abwanderung nach sich ziehen. Gemeinden, die ihr touristisches Potenzial ausschöpfen, wie etwa Amlach in Osttirol, können ihre Einwohnerzahl halten oder sogar ausbauen. Tendenziell gilt aber die Faustregel: Je weiter erreichbare Arbeitsplätze von einer Gemeinde entfernt sind, desto höher ist das Abwanderungssaldo der Gemeinde. „Da gibt es eine starke Korrelation. Irgendwann kippt die Akzeptanz auch bei jemandem, der wegen Familie und Freunden längere Pendelstrecken in Kauf nimmt“, sagt Dallhammer. Wer den Alltag nicht mehr effizient bewältigen kann, der überlegt sich also rational, wie und wo er seine Situation verbessern kann – das ist dann öfter in Städten oder stadtnahen Gemeinden. Das spiegelt sich in der Bevölkerungsprognose der Statistik Austria wider. Unter den fünf Regionen, die bis 2050 am stärksten Bevölkerung gewinnen sollen, sind drei im Wiener Umland und zwei weitere mit Innsbruck und Graz bereits Landeshauptstädte. Wien ist in den vergangenen zehn Jahren im Durchschnitt jedes Jahr um fast 19.000 Einwohner gewachsen. Das ist jedes Jahr ein Mödling, Hallein oder Kufstein. Im internationalen Vergleich ist dieser Trend nicht außergewöhnlich. Ballungszentren boomen weltweit, Kleingemeinden schrumpfen. Fischer: „Weibliche Landflucht ist international kein neues Phänomen. Das gibt es seit 100 Jahren.“
Nur mit einer Feuerwehr und einer Blasmusik kann ich heute weniger Menschen im Ort halten als vor 40 Jahren.