Der Standard

Erdogans Wunsch und Wille steht zur Abstimmung

Am Sonntag entscheide­n die Türken über den Wechsel zum Präsidials­ystem mit weitreiche­nden Befugnisse­n für Amtsinhabe­r Tayyip Erdogan. Ob Ja oder Nein, es scheint eine Fahrt ins Unbekannte. Tiefe Risse gehen durch die Gesellscha­ft.

- Markus Bernath

Istanbul/Athen – Es gibt ein Vor und ein Nach dem 16. April, die Zeit der Kampagne und die Zeit der Abrechnung. Die Türkei werde den Europäern einen „letzten Vorschlag“machen, kündigte Außenminis­ter Mevlüt Çavuşoglu am Donnerstag an. Die Türkei ist stark, viel stärker als diese 28, bald nur noch 27 Christenlä­nder, soll das heißen. Sie will die Visafreihe­it in der EU, und sie lässt sich nichts mehr sagen. Wenn in Europa am Sonntag Ostern gefeiert wird, stempeln die Türken in den Wahlkabine­n ihr „Evet“, ihr „Ja“auf den Stimmzette­l.

54,6 Prozent werden das tun, so kündigte ein der Regierung besonders nahestehen­des Meinungsfo­rschungsin­stitut an. Doch es ist wahr: Eine Niederlage des türkischen Staatspräs­identen Tayyip Erdogan und dessen Regierung beim Referendum am Sonntag wäre ein Debakel von so großem Ausmaß, dass es vielen im Land schlicht unmöglich erscheint.

„Wir haben ihn nie verlieren sehen“, sagt Yasemin Çongar, einst stellvertr­etende Chefredakt­eurin der Tageszeitu­ng Taraf, die Erdogan gleich nach dem Putsch im Sommer vergangene­n Jahres schließen ließ. Die Parlaments­wahl im Juni 2015, als die AKP kurzzeitig die absolute Mehrheit verlor, zählt nicht; es war zur Hälf- te wenigstens die Schuld Ahmet Davutoglus, des damaligen Premiers von Erdogan. Am Sonntag aber steht die Zukunft des Präsidente­n auf dem Spiel. Die Annahme der Verfassung­sänderunge­n und der Wechsel der Türkei von einer formal parlamenta­rischen Demokratie zu einem Präsidialr­egime ohne große Gegengewic­hte sind Erdogans Wunsch und Wille.

Wahl im Ausnahmezu­stand

Neun Monate liegt der Putsch zurück. Die Türkei ist nicht mehr wiederzuer­kennen: Die Wirtschaft kriselt erstmals seit dem Bankencras­h von 2001, die Armee steht in Syrien, die Terroransc­hläge gehen weiter, wie die Bombenexpl­osion in Diyarbakir diese Woche zeigte. Vor allem aber gilt der Ausnahmezu­stand. Mehr als 130.000 Beamte wurden als angebliche Verschwöre­r entlassen, 98.000 Menschen festge- nommen, die Hälfte von ihnen in U-Haft behalten.

Yasemin Çongar denkt an ein anderes Verfassung­sreferendu­m, jenes von 1982, als 91,4 Prozent Ja sagten und auch gleich den Putschgene­ral Kenan Evren zum Präsidente­n wählten. „Es war schlimmer als heute. Damals regierte die Armee“, sagt Çongar. Sie glaubt an das Reservoir der Türkei, dieses so vielfältig­en, immer wieder überrasche­nden Landes: Auf die Junta folgte Turgut Özal, der wirtschaft­sliberale Premier und spätere Präsident.

Was ist dieses Mal ein Sieg, was eine Niederlage? Reichen 51 Prozent wirklich für den Wechsel des Regierungs­systems, den Gang in eine mögliche Diktatur? Gewinnt das Ja zur Verfassung­sänderung, gibt es Neuwahlen im Herbst. Davon ist die Mehrheit der politische­n Beobachter überzeugt, auch wenn Premier und Mi- nister dies regelmäßig abstreiten. Mit einer Neuwahl treten automatisc­h die Verfassung­sänderunge­n in Kraft. Dass Erdogan damit bis zum Ende seiner Amtszeit 2019 wartet, scheint kaum plausibel. Verliert er den Volksentsc­heid, kommen die Neuwahlen noch schneller, wohl im Sommer.

Die tiefen Risse, die durch die Gesellscha­ft gehen, wird das Referendum nicht einfach wegwischen können. In Kadiköy, im großen Stadtteil im asiatische­n Teil Istanbuls, protestier­t die Mathematik­erin Betül Celeb bereits seit Wochen mit einem Sitzstreik gegen ihre Entlassung. Celeb ist schon eine Institutio­n geworden, der Trotz steht ihr ins Gesicht geschriebe­n. Die Hexenjagd auf angebliche Unterstütz­er der Bewegung des Predigers Gülen habe auch vor Celebs Behörde nicht haltgemach­t. Der neu eingesetzt­e Chef hatte es ihr gesagt: „Gib mir einen Namen, oder es wird dein Name sein, der auf der Liste steht.“

SCHWERPUNK­T Votum zur Verfassung der Türkei

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Zweimal Istanbul: Gegner der Verfassung­sänderung versammelt­en sich immer wieder in großen Zahlen. Allgegenwä­rtig ist aber die Werbung für ein Ja beim Referendum.
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