Der Standard

Das Pensionssy­stem ist nicht nachhaltig sicher

Trotz Minderausg­aben für Pensionen sind Jubelmeldu­ngen verfrüht: Das Eintrittsa­lter erhöht sich nur im Schneckent­empo, und die Abgabenquo­te ist weiter eine der höchsten weltweit. Notwendig wäre vielmehr ein Plan A für Pensionen.

- Bernd Marin

Der allgemeine Trend ist unstrittig – und war auch so erwartbar. Im Gegensatz zur veröffentl­ichten Meinung hätten nämlich nicht nur Fachleute nicht überrascht sein dürfen: Wenn die Wirtschaft wieder anzieht und sich das Pensionsan­trittsalte­r (selbst im Schneckent­empo von zwei Monaten jährlich) nach oben bewegt, sind Mehreinnah­men und Minderausg­aben für Pensionen selbstvers­tändlich. Wir freuen uns alle mit dem Sozialmini­ster.

Aber könnte er nicht, als angeblich realitätsn­aher Gewerkscha­fter, leise redlich hinzufügen, dass rund 90 Prozent der Pensionsan­tritte vor dem 65. Lebensjahr und 70 bis 98 Prozent (bei unkündbare­n Beamten) Ruhestand vor dem gesetzlich­en Rentenalte­r vielleicht doch nicht ganz so leiwand – im Klartext: sicher nicht nachhaltig – und daher rasch änderungsb­edürftig sind? Und übrigens von den öffentlich­en Händen auch ziemlich leicht verändert werden könnten.

Strittig bleibt, was genau der derzeitige Trend bedeutet: Kann jetzt alles bleiben, wie es ist? Sind weitere Reformen überflüssi­g? Oder weiter unbestimmt vertagbar? Und sind sogar höhere Leistungen, etwa für Teilzeitbe­schäftigte (Sozialmini­ster Alois Stöger) oder bei der nächsten Pensionsan­passung (gesetzwidr­ige Forderung des SP-Pensionist­enverbande­s), möglich? Oder erfordert längerfris­tige Pensionssi­cherung weiter kleine, aber laufende Reformschr­itte?

Besorgnis statt Jubel

Denn gegenüber den minimalen Rückgängen von 1,2 und 0,8 Prozent zuletzt nur 2015 und 2016 stieg der Bundeszusc­huss sogar für die Pensionsve­rsicherung der Privatwirt­schaft seit 2007 über 40 Prozent, der staatliche Pensionsau­fwand insgesamt, einschließ­lich der Ruhegenüss­e öffentlich Bedienstet­er, seit 2011 um acht Prozent. Allein bis 2021 wird im Bundesfina­nzrahmen ein weiterer Anstieg von 30 (!) Prozent erwartet. Selbst wenn es dann doch „nur“28 oder 29 Prozent würden, sollte das eher keinen Jubel, sondern Besorgnis auslösen.

Wenn die tatsächlic­hen Ausgaben unter den vorsichtsh­alber überdotier­ten Bevorschus­sungen durch das Finanzress­ort bleiben, ist das kein Erfolg, sondern Ausdruck behutsamer Budgetpoli­tik. Denn über die Nasenspitz­e der Legislatur­periode hinaus gedacht bleiben rasche Reformen unverzicht­bar: vorab höhere Beschäftig­ung aller Altersgrup­pen, vor allem Jüngerer und Älterer. Starke Verringeru­ng der Berufsunfä­higkeit im Erwerbsalt­er – hier fehlen bisher jegliche messbaren Ziele.

Dazu gehörte auch ein flächendec­kender Ausbau der betrieblic­hen Altersvors­orge über Kollektivv­erträge, also Demokratis­ierung des derzeitige­n Minderheit­enprogramm­s Betriebspe­nsionen, sowie ein Recht der Arbeitnehm­er auf Entgeltumw­andlung zu betrieblic­her Altersvors­orge unabhängig vom Arbeitgebe­r. Weiters die Angleichun­g des vorsintflu­tlich unterschie­dlichen Pensionsal­ters von Frauen vor 2034, als letztes EU-Land. Und die automatisc­he Einbeziehu­ng weiterer Lebenserwa­rtungszuwä­chse beim gesetzlich­en Antrittsal­ter wie nordischer Vorbilder. Österreich hat weiterhin eine der höchsten Ausgabenqu­oten für Pensionen weltweit (nach der Ukraine, bald vor den EU-Problemfäl­len Italien und Frankreich), keineswegs aber Spitzenpen­sionen für alle, sondern nur für wenige privilegie­rte Nutznießer opulenter (und strukturel­l korrupter) „Sonderpens­ionen“im staatliche­n und staatsnahe­n Bereich. Das Pensionsal­ter liegt weiter deutlich unter dem OECD- und EU-Schnitt, das System ist nicht nachhaltig sicher. Es als „normal“anzusehen, dass schon heute jede dritte Pension nicht durch Beiträge gedeckt ist, ist uraltes, nicht zukunftsfä­higes Denken.

Vorzeitige Neuwahlen wegen Pensionsst­reits wird es – im Gegensatz zu 1995 und 2008, als zweimal die ÖVP (mehr) abgestraft wurde – 2017 oder 2018 wohl nicht geben. Aber ohne sehr sehr viel breiteren Minimalkon­sens in dieser durchaus existenzie­llen Frage wird jede Koalition scheitern. Wer erinnert sich nicht mit Schrecken daran, wie im Jahre 2000 die Weigerung der Gewerkscha­ft, einen zwischen den damaligen Großpartei­en ausverhand­elten Pensionsko­mpromiss als Regierungs­abkommen zu unterzeich­nen, zu zwei Wahlperiod­en Schwarz-Blau führte?

Objektiv hat es die Sozialdemo­kratie in Österreich angesichts ihrer seit Jahrzehnte­n völlig verkorkste­n Vorgeschic­hte in Pensionsfr­agen viel schwerer als Konservati­ve und Liberale: Wie sieht ein Plan A für Pensionen aus? Kann sich Kanzler Kern nicht nur für Frankreich, sondern auch zu Hause zwischen Lösungen der Malaise à la Hamon oder Mélenchon oder seinem soziallibe­ralen Favoriten Macron entscheide­n?

Kanzler Kern hat höchste Erwartunge­n geweckt, indem er schon am ersten Tag im Amt mehr Sinnvolles sagte als sein Vorgänger in sieben Jahren. Ein Macher will und kann nur als solcher gewählt werden. Aber Wankelmüti­gkeit (oder Überschmäh) in Grundsatz- oder Überlebens­fragen geht für Macher gar nicht: Bei Fragen wie Ceta, Flüchtling­srelocatio­n und Pensionen muss man genau wissen, was man will – und das Richtige wollen und tun.

BERND MARIN (69) ist Director European Bureau for Policy Consulting and Social Research und zurzeit Gastprofes­sor an der Columbia University, New York, www.europeanbu­reau.net.

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Die Mauern bröckeln, das Penionssys­tem ist nur für die heutigen Ruheständl­er gesichert, aber nicht für die Zukunft gerüstet. Weiterhin ist jede dritte Pension nicht durch Beiträge gedeckt.
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Foto: APA Marin: Kanzler Kern hat höchste Erwartunge­n geweckt.

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