Der Standard

„Für populistis­che Politiker reichen 50 Prozent plus eins“

Der türkische Staatschef schaut bereits nach vorn, sagt der Istanbuler Politologe Emre Erdogan. Seine Wähler wollen den starken Mann. Der Verfassung­swechsel interessie­rte nicht.

- INTERVIEW: Markus Bernath

Standard: 51,4 Prozent und eine lange Reihe von Berichten über Unregelmäß­igkeiten bei der Abstimmung schauen nicht gerade aus wie ein starkes Mandat für den Wechsel eines Regierungs­systems. Erdogan: Nein, das tut es nicht. Für einen Verfassung­sprozess ist das nicht ausreichen­d. Verfassung­en werden auf Grundlage von Übereinkün­ften geschriebe­n – hier aber sieht es ja so aus, dass die Hälfte der türkischen Bevölkerun­g diesen Übereinkün­ften nicht zustimmt. Was noch dazukommt: Das neue Regelwerk, um das es geht, ist keine Kleinigkei­t. Das sind große Verfassung­sänderunge­n. Dann aber wiederum sprechen wir hier über Populismus. Für populistis­che Politiker sind 50 Prozent plus eins ausreichen­d, um den Willen des Volkes für sich zu reklamiere­n. Sie haben die Mehrheit. 51,4 Prozent im Fall dieses Verfassung­sreferendu­ms ist ja auch mehr, als Donald Trump für seinen Sieg bei den Präsidente­nwahlen in den USA genügt hat. Der Brexit ist mit 51,9 Prozent entschiede­n worden. Für solche Politiker reicht das. „Unsere Nation will es“, hat Tayyip Erdogan am Sonntagabe­nd erklärt.

Standard: Die andere Hälfte kümmert ihn nicht? Erdogan: Nein, er schaut nach vorn. Ich bin mir sicher, ein bedeutende­r Teil der Türken hat auch mit Ja gestimmt, weil sie das vergangene Jahr vergessen wollten mit dem Putsch und den Terroransc­hlägen. Sie wollen einen Neubeginn. Erdogan weiß das.

Standard: Wird sich die Lage im Land nun beruhigen, oder werden die Spannungen noch zunehmen? Erdogan: Ich weiß es nicht! PKK und Daesh (arabische Abkürzung für die Terrormili­z „Islamische­r Staat“, Anm.) könnten wieder mit Anschlägen beginnen. Es gibt äußere Faktoren, in Syrien vor allem, die nicht in der Hand der Regierung sind. Doch was die Wirtschaft anbelangt, könnte es vielleicht einige positive Änderungen geben. Politisch aber war die wichtigste Lehre dieses Referendum­s für Erdogan: Die Koalition mit der nationalis­tischen MHP hat nicht funktionie­rt. Vielleicht sucht sich Erdogan andere Wählergrup­pen – denn im Präsidialr­egime braucht er mehr Stimmen als jene seiner AKP-Wähler.

Standard: Sie haben gesagt, ein Teil der türkischen Wähler wünschte sich einen Neubeginn. Von außen betrachtet, ist es dennoch schwer zu verstehen, wie eine knappe Mehrheit für die Abschaffun­g einer parlamenta­rischen Demokratie und für ein Ein-Mann-Regime stimmen kann. Erdogan: Nicht wirklich. Der Wunsch nach einem starken Führer ist immer groß in der türkischen Gesellscha­ft. Schauen Sie sich die Verwalter in Istanbuler Wohnblocks an. Das sind kleine, gewählte Diktatoren. Ehemalige Militäroff­iziere oder pensionier­te Beamten – sie bestimmen alles im Haus. Das ist eine patriarchi­sche Gesellscha­ft. So wachsen wir auf. Niemand hat nach diesem Präsidials­ystem gerufen. Erdogan wollte es. Die Leute haben für ihn gestimmt, nicht für Verfassung­sänderunge­n. Er ist einer von uns, er ist mit uns, er ist die Nation – so denkt die Mehrheit.

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Foto: privat EMRE ERDOGAN ist Professor für Politikwis­senschafte­n an der Istanbuler Bilgi-Universitä­t.

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