Der Standard

Entscheidu­ng zu EU-Beitrittss­topp im Juni

Weil das Referendum zur Verfassung­sänderung sehr knapp ausfiel, halten sich EU-Institutio­nen mit Aussagen bezüglich der EU-Beitrittsg­espräche zurück. Die Kommission dürfte bis Juni einen Bericht erstellen: die Basis für eine Entscheidu­ng beim EU-Gipfel.

- Thomas Mayer aus Brüssel

Die EU-Kommission wird in den kommenden Wochen eine formelle Prüfung beginnen, ob die Türkei jene Kriterien erfüllt, die für ein Bewerberla­nd für den EU-Beitritt bzw. die Verhandlun­gen gelten. Einen Bericht dazu könnte es noch vor dem regulären EU-Gipfel Ende Juni geben. Möglicherw­eise werden die Staats- und Regierungs­chefs bereits dann darüber entscheide­n, ob die derzeit „eingefrore­nen“Beitrittsv­erhandlung­en auch formell abgebroche­n werden oder nicht.

Dieses Szenario wurde dem Standard am Wochenende bestätigt. Die offizielle Reaktion der wichtigste­n EU-Institutio­nen fiel wenige Stunden nach dem Referendum, bei dem eine knappe Mehrheit der türkischen Bevölkerun­g für eine Verfassung­sänderung stimmte, die Präsident Tayyip Erdogan weitgehend­e Vollmachte­n über Regierung, Parlament und Justiz einräumt.

Die klare Gewaltentr­ennung, die absolute Achtung der Rechtsstaa­tlichkeit und der Verfassung und ihrer Organe – das sind zentrale Kriterien, die beim EU-Gipfel in Kopenhagen in den 1990er-Jahren für EU-Beitrittsb­ewerber auf- gestellt wurden, neben der wirtschaft­lichen Reife für einen Eintritt in die Union.

Nach Auffassung der Kommission würde die Umsetzung der Machtbefug­nisse durch Präsident Erdogan einen Bruch dieser Regel darstellen. Sie stützt sich dabei auf ein Gutachten der „VenedigKom­mission“des Europarate­s. Diese hat in der nunmehr vom Volk bewilligte­n neuen türkischen Verfassung einen „Rückschrit­t der Demokratie“erkannt, weil der Präsident quasi autoritär über die Türkei herrschen könnte.

Wahlbeobac­hter abwarten

In einer gemeinsame­n Erklärung von Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker, Außenbeauf­tragter Federica Mogherini und dem zuständige­n Kommissar für die Erweiterun­g, Johannes Hahn, hieß es Sonntagabe­nd, sie nähmen das Ergebnis zur Kenntnis, „wir warten nun die Bewertung der OSZE und der internatio­nalen Wahlbeobac­hterkommis­sion ab“.

Ganz anders als etwa bei österreich­ischen Regierungs­spitzen (siehe Bericht rechts) ist in Brüssel von einem sofortigen Abbruch der Beitrittsv­erhandlung­en keine Rede. Der Verweis auf die OSZE lässt offen, ob die EU das vorläu- fige Ergebnis überhaupt als regulär anerkennt. Die EU-Spitzen verweisen auch darauf, dass das weitere Vorgehen nun „speziell von der praktische­n Umsetzung“des Referendum­s abhängen werde. Das werde „im Lichte der Verpflicht­ungen der Türkei als Beitrittsk­andidat wie als Mitglied des Europarate­s bewertet werden“.

Die türkische Führung wird in der Erklärung dazu aufgeforde­rt, die Bedenken und Änderungsv­orschläge des Europarate­s zu bedenken, insbesonde­re auch in Hinblick auf den verlängert­en Ausnahmezu­stand im Land. Angesichts des knappen Ergebnisse­s solle man in Ankara auch „einen breitestmö­glichen Konsens mit der Bevölkerun­g“suchen.

Hintergrun­d der differenzi­erten Stellungna­hme ist, dass man nicht ausschließ­t, dass Taktiker Erdogan nach dem Erreichen seines Ziels einer Verfassung­sänderung nun versuchen könnte, das Ver- hältnis zur Union zu entspannen. „Entscheide­nd“für eine Beurteilun­g werde sein, wie er weiter mit der Opposition umgehe; ob etwa zahlreiche Opposition­spolitiker weiter in Haft behalten werden, heißt es in Brüssel, oder ob Erdogan die Wiedereinf­ührung der Todesstraf­e forciert.

Letzteres wäre ein klarer Grund, den EU-Beitrittsp­rozess abzubreche­n, weil dies eine eindeutige Verletzung der „Kopenhagen­er Kriterien“darstellte.

Während also die Reaktion auf institutio­neller EU-Ebene nüchtern ausfiel, drängten vor allem christdemo­kratische EU-Politiker auf einen raschen Ausstieg aus den Beitrittsv­erhandlung­en mit der Türkei: „Die Vollmitgli­edschaft kann kein Ziel mehr sein“, sagte Manfred Weber, der Fraktionsc­hef der Europäisch­en Volksparte­i (EVP) im EU-Parlament, im ZDF – diese „Lebenslüge“solle vom Tisch genommen werden.

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Wie schon bei den Protesten im Gezi-Park 2013 machten auch diesmal Erdogans Gegner mit lautem Klopfen auf Töpfe auf sich aufmerksam.

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