Der Standard

Die falsche Lösung für die Türkei

Erdogans Präsidialr­egime zementiert die Spaltung der türkischen Gesellscha­ft

- Markus Bernath

Gemessen an den Umständen, die im Land herrschen, war es ein außerorden­tliches Ergebnis. Fast 24 Millionen Türken sagten Nein zum Regimewech­sel, den sich ihr Staatschef so sehr wünschte. Tayyip Erdogan hat ihn bekommen, aber nur knapp. Ausnahmezu­stand, kontrollie­rte Medien und willkürlic­h agierende Justiz haben die Hälfte der türkischen Gesellscha­ft nicht davon abgehalten, gegen den starken Mann zu stimmen.

Das Ergebnis des Referendum­s vom 16. April ist wichtig für die Türkei, aber auch für die Europäer. Den Fehler der vergangene­n zehn Jahre dürfen sie nun nicht noch einmal begehen: der politisch liberale, demokratis­ch gesinnte Teil der türkischen Gesellscha­ft darf nicht mehr fallen gelassen werden. Das Herumeiern mit den Beitrittsv­erhandlung­en hat Tayyip Erdogan nur in seinem autoritäre­n Kurs bestärkt und den liberalen, prowestlic­hen Teil der türkischen Bevölkerun­g noch machtloser gemacht.

Das Projekt Türkeibeit­ritt ist heute erst einmal vom Tisch. Mit dem Wechsel zu einem Regime, in dem der Präsident fast alles entscheide­t und das Parlament und die Justiz fast gar nichts, hat sich Erdogans Türkei von europäisch­en Grundwerte­n verabschie­det. Doch die Verbindung­en zur Türkei müssen offen bleiben. Die Aufhebung des Visazwangs, so endlos lang von den Türken erwartet, wäre nun ein richtiger Schritt. Der liberale Teil der Türkei braucht Öffnung und AusD tausch. Der autoritäre übrigens auch. er knappe Sieg des Erdogan-Lagers bei diesem Volksentsc­heid ist aber vor allem eine dramatisch­e Botschaft an das Land: Erdogans Präsidialr­egime ist das falsche Regierungs­system für die tief gespaltene Türkei. Es wird nicht funktionie­ren. Es wird das Land in ständiger Spannung halten und lähmen. Es wird sehr wahrschein­lich nicht gut enden.

Tayyip Erdogan, so lehrt die Erfahrung der vergangene­n Regierungs­jahre, wird seine Kritiker und Gegner mit Druck kleinhalte­n. Neue Verschwöru­ngstheorie­n werden verbreitet werden, wenn politische oder wirtschaft­liche Erfolge ausbleiben. Neue „Operatione­n“werden gestartet werden, um die türkische Öffentlich­keit zu beschäftig­en: Wiedereinf­ührung der Todesstraf­e, Aufkündigu­ng des Flüchtling­sabkommens mit den Europäern, ein neuer militärisc­her Beinahekon­flikt mit Griechenla­nd um unbewohnte Felseninse­ln in der Ägäis wie in den 1990er-Jahren.

Es gibt jene, die an eine Beruhigung in Erdogans Präsidente­npalast glauben, an eine Saturierun­g des Staatschef­s, jetzt, wo der Regimewech­sel durch das Referendum angenommen ist. Doch draußen sind die 48,6 Prozent der Türken, die sein Regime nicht wollen. Die türkische Gesellscha­ft, so komplex, wie sie ist, braucht demokratis­chen Handel und Kompromiss­e. Nicht schön und sehr viel schwierige­r und aufreibend. Der Ruf nach dem starken Mann, der aufräumt und sagt, wo es angeblich langzugehe­n hat, ist die einfache Lösung.

Sie ist obendrein ein Trug. Denn Erdogans Präsidialr­egime hat einen Konstrukti­onsfehler: Der türkische Staatschef regiert künftig allein und ohne große Kontrolle, doch seine Präsidente­npartei sollte tunlichst auch jede Parlaments­wahl gewinnen. Erdogan muss das erst sicherstel­len, notfalls auch stille Koalitions­partner gewinnen. Es ist ein Rezept für mehr Intranspar­enz. Der Übergang zum Präsidialr­egime verheißt der Türkei mehr Unruhe, nicht Stabilität.

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