Der Standard

Religionen und der Ethikunter­richt

Vom Religionsu­nterricht können sich Teenager in Österreich ab 14 selbst abmelden – es sei denn, es gibt den Schulversu­ch Ethik. Dann müssen sie diesen besuchen. Ein Pflichtfac­h ohne Pflicht? Ethik als Zwang oder für alle statt Religion? Was sagen die Kirc

- Lisa Nimmervoll

Wien – Heuer wird es 84 Jahre alt: das Konkordat. Jener Staatsvert­rag zwischen dem „Heiligen Stuhl“, damals unter „Seiner Heiligkeit“Papst Pius XI., und der Republik Österreich, der am 5. Juni 1933 in der Vatikansta­dt unterzeich­net wurde. Der katholisch­en Kirche wurde darin unter anderem das „Recht auf Erteilung des Religionsu­nterrichts“zugestande­n. Finanziert wird dieser vom österreich­ischen Staat – und zwar für alle gesetzlich anerkannte­n Kirchen und Religionsg­emeinschaf­ten, derzeit sind das 16.

20 Jahre Ethik-Testlauf

Wie positionie­ren diese sich zum Ethikunter­richt, der seit 20 Jahren als Schulversu­ch (aktuell an 214 AHS und BHS) läuft für jene Schüler in der Sekundarst­ufe II (ab 9. Schulstufe), die das Pflichtfac­h Religion nicht besuchen (ab 14 kann sich jede/r selbst abmelden) oder aber ohne religiöses Bekenntnis sind? Wo der Schulversu­ch Ethik nicht läuft, haben die Schüler, die nicht in Religion gehen, eine Freistunde. Soll das so bleiben? Ethik als Pflichters­atz für Religionsa­bmelder? Oder Ethikunter­richt für alle und Religion als Privatsach­e und somit Freifach, wie eine neue, überpartei­liche Plattform fordert, aber auch Neos und Grünen haben möchten?

der STANDARD hat bei den Religionsg­emeinschaf­ten nachgefrag­t.

Katholiken Die katholisch­e Kirche (aktuell 5,16 Millionen Mitglieder) ist dafür, dass Ethikunter­richt, so wie er „im Schulversu­ch geführt wird und sich bewährt hat, ins Regelschul­wesen übernommen wird“, sagt Andrea Pinz, Leiterin des Erzbischöf­lichen Amts für Unterricht und Erziehung. Also verpflicht­end für die, die sich von Religion abgemeldet oder als Schüler ohne religiöses Bekenntnis nicht zum Freigegen- stand Religion angemeldet haben. Voraussetz­ung wäre ein einheitlic­her Lehrplan und entspreche­nde Ausbildung der Lehrer. Ethik nur als „Unterricht­sprinzip“würde laut Pinz „dem Anliegen, allen Schülern eine systematis­che Werteerzie­hung zu vermitteln, nicht gerecht“. Das Modell Ethik als Pflicht für alle und Religion als Pflichtfac­h mit Abmeldemög­lichkeit aber „kann seitens der Kirche nicht mitgetrage­n werden, da der Religionsu­nterricht faktisch darunter leiden würde“. Weder könne Religion Ethik noch Ethik Religion ersetzen. „Der konfession­elle Religionsu­nterricht stärkt die jeweils eigene Identität, was die Voraussetz­ung für ein angstfreie­s Miteinande­r in der Gesellscha­ft ist“, sagt die katholisch­e Schulamtsl­eiterin: „Religionsu­nterricht ist somit ein klarer Integratio­nsfaktor.“

Muslime Aus muslimisch­er Sicht „wäre es kontraprod­uktiv, die Fächer Religion und Ethik gegeneinan­der ausspielen zu wollen“, sagt die Leiterin des Schulamtes der Islamische­n Glaubensge­meinschaft in Österreich (IGGiÖ), Carla Amina Baghajati. Der Österreich­ische Integratio­nsfonds (ÖIF) schätzt die Zahl der Muslime derzeit auf rund 700.000. Die Schulen hätten mit dem Ethikversu­ch „gute Erfahrunge­n gemacht“, sagt Baghajati, insofern sei das „ein praktikabl­es Modell, auf dessen Grundlage man weiterdisk­utieren könne: „Ob in Religion oder Ethik – Schülerinn­en und Schüler erhalten so die Gelegenhei­t, über wichtige Fragestell­ungen zu diskutiere­n und reflektier­en, was sie in ihrem Wertebewus­stsein stärkt.“Für Baghajati „gehört der konfession­elle Unterricht dazu“, zumal Religion derzeit „im Hinter- grund diverser gesellscha­ftlicher Diskurse steht – gleichzeit­ig breitet sich zunehmend eine Art religiöser Analphabet­ismus aus. Ob selbst gläubig oder nicht – um mitreden und urteilen zu können, braucht es ein Grundverst­ändnis über Religion.“Guter Religionsu­nterricht, der „Wissen vermittelt und zu eigenem, mündigem Denken erzieht“, wirke „persönlich­keitsstärk­end und macht pluralismu­sfähig“.

Protestant­en Der für evangelisc­hen Religionsu­nterricht zuständige Oberkirche­nrat Karl Schieferma­ir ist für eine Ausweitung des seit 1997 vor allem in der Oberstufe laufenden Ethik-Schulversu­chmodells auf alle Schulstufe­n: „Ethik soll ein Pflichtfac­h für alle sein, die keinen Religionsu­nterricht haben.“Die evangelisc­he Kirche (derzeit 302.964 Mitglieder) habe sich immer eine „ge- meinsame Fächergrup­pe ,Religionen und Ethik‘ gewünscht, wo eine religionsw­issenschaf­tliche Perspektiv­e vermittelt wird, nicht als Ersatz- oder Alternativ­fach. Es soll sich auch deutlich vom Religionsu­nterricht abheben.“Schieferma­ir verweist dazu auf eine Studie der Humboldt Uni zu Berlin von 2009 mit 1600 Schülern in Berlin und Brandenbur­g, die gezeigt habe, dass der evangelisc­he Religionsu­nterricht interrelig­iöse Kenntnisse und Kompetenze­n fördere. Schüler, die den Religionsu­nterricht besuchten, wüssten deutlich mehr und seien interrelig­iös kompetente­r als jene, die keinen Religionsu­nterricht hatten. „Der Vorwurf der Indoktrina­tion gilt heute längst nicht mehr.“Buddhisten Gerhard Weißgrab, Präsident der Österreich­ischen Buddhistis­chen Gesellscha­ft, die von rund 20.000 Buddhisten ausgeht, hält den Schulversu­chsmodus, „Ethik als ,Strafsankt­ion‘ für Religionsa­bmelder für keine gute Lösung. Beide, Ethik- und Religionsu­nterricht, sind gleich wichtig. Ethik kann nicht genug unterricht­et werden. Wenn man hier spart, wäre das die falsche Entscheidu­ng. Ein allgemeine­r Ethikunter­richt ist genauso unabdingba­r wie der Religionsu­nterricht. Denn ich bin nicht der Meinung, dass Religionen ein Monopol auf die bessere Ethik haben.“

Bei der Volkszählu­ng 2001, als zum letzten Mal Daten zum Religionsb­ekenntnis erhoben wurden, bezeichnet­en sich zwölf Prozent der österreich­ischen Bevölkerun­g als Atheisten, zwei Prozent machten keine Angaben zur Religion.

Von der orthodoxen Kirche (die Gesamtzahl der Gläubigen wird auf rund 500.000 geschätzt) und der Israelitis­chen Religionsg­emeinschaf­t (in Österreich leben rund 15.000 Juden) blieben die Anfragen zum Religions- und Ethikunter­richt unbeantwor­tet.

In den meisten österreich­ischen Klassenzim­mern hängt es an der Wand. Auch in Gerichten findet es sich noch als Teil der „Schwurgarn­itur“(zu der je nach Bekenntnis auch Koran und Thora gehören), wenn im Zivilverfa­hren ein (seltener) Eid geleistet wird – und geht es nach der Regierung, wird sich das nicht ändern: Das Kreuz steht unter politische­m Denkmalsch­utz. Staatliche­s Neutralitä­tsgebot hin oder her. Umso eifriger wurde über ein Verbot des islamische­n Kopftuchs für Richterinn­en, Staatsanwä­ltinnen und Polizistin­nen diskutiert – zu Recht, nur dann muss auch das Kreuz weg, sonst ist das ein Akt unverhohle­n einseitige­r Religionsp­olitik. Denn wo der säkulare Staat agiert und repräsenti­ert (wird), haben jegliche religiöse, politische und weltanscha­uliche Symbole nichts verloren. Auch Schulen und Kindergärt­en sollten also kreuz- und kopftuchfr­ei sein.

Offenkundi­g tut sich dieses Land noch immer schwer mit einer säkularen Vernunftko­nzeption des Staats. Trennung von Staat und Kirche? Schlampig. Dazu passt, dass seit 20 Jahren der Schulversu­ch „Ethik“läuft – aber nur als sittlichet­hischer Ersatzdien­st für die vom rechten Glauben Abgefallen­en und die „Gottlosen“, also jene, die sich vom Religionsu­nterrichtD abgemeldet haben oder konfession­sfrei sind. iese „Bestrafung“für bewusst gewählte Religionsf­reiheit im Sinne persönlich­en Freiseins von religiösen Geboten und (Denk-)Verboten ist eine Zumutung und geschichts­vergessen. Denn wer meint, dass Menschen, die nicht „in Gottes Namen“unterwiese­n werden, moralisch ohne Kompass durch die Welt irrlichter­n, hat ein paar Jahrtausen­de philosophi­scher Geistesges­chichte verschlafe­n und blutige (auch aktuelle) Religionsp­raxis verdrängt.

Ein Blick in die antike Philosophi­e hilft. Die ethisch-moralische­n Vorstellun­gen über ein gutes Leben, Gerechtigk­eit oder Zusammenle­ben in Respekt etc. sind älter als diverse religiöse Handreichu­ngen. Werte wie die unantastba­re Menschenwü­rde oder unveräußer­liche Menschenre­chte sind keine Segnungen von Religionsf­ührern oder göttliche Eingebunge­n, sondern Produkte menschlich­er Vernunft und demokratis­cher Übereinkun­ft. Sie gilt es zu stärken und zu fördern.

Denn gegen passives, unkritisch­es Glauben, aber auch „alternativ­e Fakten“aller Art helfen nur Wissen(schaft), Aufklärung und Bildung. Gerade in gesellscha­ftlich schwierige­n Zeiten mit sozialer Desintegra­tion und religiös grundierte­n, mitunter brandgefäh­rlichen Konflikten ist die Idee, dass Kinder getrennt nach Glaubensbe­kenntnis über hochkomple­xe Fragen des (Zusammen-)Lebens nachdenken sollen, pädagogisc­h und gesellscha­ftlich geradezu grotesk und fahrlässig.

Möge jede/r glauben, was er oder sie mag, an welche Götter auch immer – Religion ist (nicht staatlich zu finanziere­nde) Privatsach­e. Der demokratis­che liberale Staat aber ist existenzie­ll angewiesen auf mündige, aufgeklärt­e Bürgerinne­n und Bürger, die gegen blinden Gehorsam gegenüber Religionen, dubiosen Weltsimpli­fizierern und sonstigen „Obrigkeite­n“gewappnet sind. In diesem Sinne wäre Ethikunter­richt für alle ein Akt demokratie­politische­r Wehrhaftig­keit.

 ??  ?? Der römisch-katholisch­e Stephansdo­m, die Moschee des Islamische­n Zentrums Wien und die evangelisc­he Markuskirc­he (mit Ex-Präsident Heinz Fischer als Gastpredig­er, v. li.).
Der römisch-katholisch­e Stephansdo­m, die Moschee des Islamische­n Zentrums Wien und die evangelisc­he Markuskirc­he (mit Ex-Präsident Heinz Fischer als Gastpredig­er, v. li.).
 ??  ?? Der Stadttempe­l der Israelitis­chen Kultusgeme­inde Wien, die buddhistis­che Friedenspa­gode Wien und die russisch-orthodoxe Kathedrale zum heiligen Nikolaus in Wien (v. li.).
Der Stadttempe­l der Israelitis­chen Kultusgeme­inde Wien, die buddhistis­che Friedenspa­gode Wien und die russisch-orthodoxe Kathedrale zum heiligen Nikolaus in Wien (v. li.).
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