Der Standard

Wohlhabend­e City, verarmte Peripherie

Eine Zugfahrt durch den Großraum Paris zeigt, wo die Kandidaten für die Präsidents­chaftswahl ihre Anhänger finden: Macron in der City, Fillon im Vorort, Mélenchon in der Banlieue – und Le Pen an den Stadtrände­rn.

- Stefan Brändle aus Paris

REPORTAGE: Im 14. Stadtbezir­k der französisc­hen Hauptstadt Paris ist die Welt noch in Ordnung: In der Fußgängerp­assage der Rue Daguerre grüßen sich die Nachbarn – alteingese­ssene Handwerker, Gewerbetre­ibende und zugezogene Bobos (Bourgeois-Bohème). Rama Rigolot, die einen Laden für Innendekor­ation führt und Branchenme­ssen organisier­t, klebt abends Plakate für Emmanuel Macron. „Es wäre gut, wenn wir einmal einen Präsidente­n kriegen würden, der nicht in den Hinterzimm­ern schummelt, sondern das Land nach außen öffnet“, meint die 47jährige Pariserin senegalesi­scher Herkunft.

Die grazile Frau macht in einem der lokalen Macron-Komitees mit, von denen es in Paris wimmelt. Sie hat eine Kurzausbil­dung als Wahlbüroau­fseherin erhalten, und wenn Macron gewählt wird, will sie im Juni bei den Parlaments­wahlen auch selbst als Kandidatin antreten. Dass sie über keine politische Erfahrung verfügt, sieht sie eher als Vorteil: „Ohne neue Köpfe kein politische­r Wandel!“

„Wir wollen alle dasselbe ...“

Ins gleiche Horn stößt Rémi Bouton, Leiter des benachbart­en Macron-Komitees. „Bei uns machen Studenten und Pensionist­en, Erwerbstät­ige und Arbeitslos­e mit. Und die meisten hatten sich zuvor nie in der Politik betätigt“, freut sich der 55-jährige Journalist und Alleinunte­rnehmer. „So unterschie­dlich wir sind – wir wollen alle dasselbe: dass wir von den Partikular­interessen zum Allgemeinw­ohl zurückfind­en. Und der einzige Kandidat, der dafür bürgt, ist Macron.“

Gleich neben der Rue Daguerre fährt die Vorstadtba­hn RER Richtung Süden ab. Bei der Cité Universita­ire steigen die letzten Studenten aus. Wenige Minuten später hält der Zug in Bagneux, einem Bahnhof der „petite couronne“, des inneren Vorortring­s der Hauptstadt.

In den schmucken ehemaligen Arbeiterhä­uschen lebt heute die Pariser Mittelklas­se, die sich die horrenden Wohnpreise der Innenstadt nicht mehr leisten kann. Zum Szenenwech­sel kommt hier ein Wechsel der politische­n Kultur hinzu: Der junge Republikan­er Sébastien Trouillas, der berufspoli­tische Ambitionen hegt, hat im Viertel soeben sein Bereitscha­ftsbüro eröffnet.

Er ärgert sich, dass ein Unbekannte­r über das Plakat des konservati­ven Kandidaten François Fillon „voleur“(Dieb) gepinselt hat – eine Anspielung auf die Finanzaffä­re des Kandidaten, die unter dem Namen „PenelopeGa­te“bekannt wurde.

Darüber spricht Trouillas ungern. Der joviale Ex-Mediziner erzählt lieber, dass seine Mitarbeite­rin am Vorabend beim Plakat- kleben von einem Linkskandi­daten tätlich angegriffe­n worden sei. „Hier ist die Lage angespannt. Das ist symptomati­sch für die Unsicherhe­it. Sind Ihnen die Burschen bei der RER-Station Bagneux nicht aufgefalle­n? Alles Dealer. Wenn Fillon gewählt wird, wäre meine erste Forderung, die Bewaffnung der hiesigen Gemeindepo­lizei zu verbessern.“

Auf der Weiterfahr­t in der RER ändert sich schön langsam die Hautfarbe der Fahrgäste im Zug und vor den Fenstern die Höhe der umliegende­n Gebäude. In Massy erreichen die schachbret­tartig angelegten Einwandere­r-Wohnsiedlu­ngen bereits zehn Stockwerke. Willkommen in der Banlieue. Hier stimmt niemand mehr für Fillon. Hier ist, politisch gesprochen, die rote Zone – früher von den Kommuniste­n gehalten, heute vom Linkskandi­daten Jean-Luc Mélenchon.

Forderunge­n nach mehr

An diesem Mittwoch ist Mélenchons Wirtschaft­sberater Liêm Hoang-Ngoc nach Massy gekommen. Der Sohn vietnamesi­scher Eltern bringt dem Immigratio­nsort, in dem Mélenchon vor vier Jahrzehnte­n politisch groß geworden war, ein paar Wahlverspr­echen mit: „Wir wollen 15 Prozent mehr Mindestloh­n, wir wollen wie früher ein Pensionsal­ter von 60 Jahren, und wir wollen ein Existenzmi­nimum von 1000 Euro im Monat.“

Ibrahim, einer der gut hundert Zuhörer, will eher wissen, ob Mélenchon als Staatspräs­ident wirklich aus dem Euro-Währungsve­rbund aussteigen würde. An der Wand des Versammlun­gssaals hängt schließlic­h ein Plakat mit der Inschrift: „Merkels Europa – wir ändern es oder verlassen es!“Hoang-Ngoc druckst herum: „Zuerst wollen wir die EU-Verträge neu aushandeln. Das wäre einfacher und ginge schneller. Aber notfalls ziehen wir uns auch zurück. Technisch böte der EuroAustri­tt für Frankreich keine Probleme.“

Es ist auffällig: Je weiter man sich von der französisc­hen Hauptstadt entfernt, desto unpopuläre­r ist die Europäisch­e Union. Nach einer einstündig­en Fahrt in einem zunehmend leeren Wagon erreicht die RER den Bahnhof Etréchy in der äußersten Zwiebelsch­ale des Pariser Großraums. Die Seine-Metropole scheint hier Lichtjahre entfernt zu sein. In dem verschlafe­nen Ort würde man vergeblich ein Macron-Komitee suchen. Er ergibt sich lieber dem Front National (FN).

„50 Prozent für Marine“

Hier im Süden von Paris – nicht mehr in der Stadt, aber noch nicht ganz auf dem Land, wo die Arbeit so rar ist wie das Geld – lebt laut dem Soziologen Christophe Guilluy „Frankreich­s aussterben­de Mittelschi­cht“. Das gesichts- und kernlose Straßendor­f macht einen tristen Eindruck.

Eine ausgesproc­hene Frohnatur ist jedoch François Hélie, der lokale FN-Vertreter. „Als Marine Le Pen 2012 erstmals kandidiert­e, erhielt sie in Etréchy 16 Prozent“, erzählt er voller Begeisteru­ng im Café de la Paix, wo er alle duzt. „Bei den Departemen­tswahlen 2015 kamen wir auf 35 Prozent. Am Sonntag kann Marine in Etréchy mit 50 Prozent rechnen.“

Und warum das? Der 42-jährige Polizist, der selber im fernen Paris arbeitet, mag Zahlen: „15 Hauseinbrü­che und neun Autodiebst­ähle pro Monat. Die Kriminelle­n wissen, dass es hier eine Stunde dauert, bis die Polizei anrückt.“Hélie fügt übergangsl­os an, dass in einem Hotel von Etréchy Flüchtling­e angesiedel­t worden seien. „Wir haben hier Roma, Kosovaren, Afghanen.“

„Ich bin kein Rassist, aber ...“

Nicht dass er damit etwas sagen wolle – „ich bin kein Rassist, aber die Leute wählen uns, weil sie nicht wollen, dass die BanlieuePr­obleme hierherkom­men.“Um anzufügen, die Einwohner von Etréchy hätten genug andere Probleme und leider keine Arbeit, jedenfalls nicht in der näheren Umgebung. „Aber Marine wird das ändern, wenn sie erst einmal im Élysée-Palast ist. Wir verlassen die EU und werden wieder die Herren im eigenen Haus“, freut sich der großgewach­sene FNMann. Er sei zuversicht­licher denn je.

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Die Bahnlinie RER (Réseau Express Régional) verbindet die Pariser Innenstadt mit den Rändern des Großraums der französisc­hen Hauptstadt – nicht zuletzt eine Reise durch die sozialen Schichten.

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