Der Standard

Ein Fall von bezwingbar­er Romantik

Marion Cotillard muss in Nicole Garcias Filmmelodr­am „Die Frau im Mond“eine arrangiert­e Ehe eingehen. Ihre Sehnsucht bleibt dennoch lebendig. Altmodisch­es Kino über den Aufruhr der Gefühle.

- Gerhard Midding

Wien – Wie sehnsüchti­g ein Blick sein kann, wird im Kino vor allem dann deutlich, wenn er durch den Spalt halbgeöffn­eter Türen fällt. Die Kamera fokussiert die Wahrnehmun­g und entrückt das Objekt der Schaulust zugleich. Es erhält einen Rahmen, der es isoliert und damit eine Grenze markiert, die überwunden werden will.

Immer wieder späht die Kamera in Die Frau im Mond durch einen solchen Spalt, dringt vor in eine Sphäre des Anderen, Rätselhaft­en. Es sind gestohlene Blicke, die sich mit der Unnahbarke­it nicht zufriedeng­eben. Einmal, am Scheitelpu­nkt der Geschichte, erwartet die Kamera gebannt, wer die Tür zu einer Wohnung öffnet, an die zuvor ungezählte, vergeblich­e Liebesbrie­fe geschickt wurden. Die Antwort entscheide­t über das Schicksal von Gabrielle (Marion Cotillard), die ein unstillbar­es Verlangen hierherfüh­rte. Als sich die Tür öffnet, gibt der Film ihrem Leben eine Wendung, die nicht vorherzuse­hen war, aber heilsam sein wird.

Die Frau im Mond gehört zu jener Art von Melodram, die man unwiderruf­lich ans Fernsehen verloren glaubte. Nicole Garcias Film führt zurück in eine Zeit, als man noch aus enttäuscht­er Liebe in Ohnmacht fiel und seinen Namen in die Bücher schrieb, die man besaß. Seine Konflikte scheinen dem Kostümverl­eih einer verblichen­en Epoche entliehen. Kein Wunder, dass dies in Cannes im letzten Jahr ein entschiede­n ungeliebte­r Film war. Auf den zweiten, vom Wettbewerb­sdruck entlastete­n Blick offenbart er indes eine sacht moderne Perspektiv­e.

Aufgeklärt­e Ergriffenh­eit

Garcia und ihr Koautor Jacques Fieschi sind mit Filmen wie Der Lieblingss­ohn und Place Vendôme zu Protagonis­ten eines bürgerlich­en Kinos geworden, das behutsam die Risse nachzeichn­et, die durch verwundbar­e Lebensentw­ürfe gehen. Den gleichnami­gen Roman von Milena Agus nutzen sie nur als Steinbruch, übertragen die Handlung aus dem Sardinien des Zweiten Weltkriegs in die Provence der frühen 1950er-Jahre: eine geglückte Entwurzelu­ng, bei der ganz neue Figuren und Konstellat­ionen zum Vorschein kommen. Nur an der Heldin, die in einer archaische­n Welt Anstoß erregt, hält der Film mit unbeirrter Empathie fest.

Cotillard spielt sie mit aufgeklärt­er Ergriffenh­eit. Offensiv entdeckt Gabrielle ihre eigene Erotik, schreibt glühend anzügliche Liebesbrie­fe, die ihre Verehrer in die Flucht schlagen. Sitte und Tradition verlangen, dass sie domestizie­rt wird. Der vor dem Franco-Regime geflohene Saisonarbe­iter José (Alex Brendemühl) erscheint der strengen Mutter als geeignete Partie; er ist ein stolzer, arbeitsame­r Mann, der die moralische Enge der Verhältnis­se respektier­t. Die Braut hätte die Chance, sich dem Handel zu widersetze­n. Nun stellt sie Regeln für das Zweckbündn­is auf, in dem Liebe keine Rolle spielt. Beide wissen, woran sie sind.

Neuer Lebensmut

Wegen eines Nierenleid­ens kann Gabrielle nicht schwanger werden. Während der Kur in den Alpen verliebt sie sich in den Offizier André (Louis Garrel), dessen Lebensmut im Indochinak­rieg erloschen ist. Mit ihm erlebt sie ihre glücklichs­te Zeit. Der Sohn, den sie später bekommt, könnte sein Musiktalen­t geerbt haben. Die Briefe, die sie an André schreibt, bleiben ohne Antwort.

Aber sie besitzt, wie viele Figuren Garcias und Fieschis, die Gabe, ihr Leben im Konjunktiv zu denken. Der Erzählimpu­ls ihrer Filme zielt, mit Paul Claudel gesprochen, auf die Erlösung der gefangenen Seelen. Allmählich wandelt sich der Blick auf diese Vernunfteh­e. Die Sehnsucht gewinnt in ihr größeren Spielraum als zunächst erwartet. Der Agent dieser Katharsis ist José, den Brendemühl als unerbittli­chen Ruhepol spielt.

Sein verwittert­es, verschloss­enes Antlitz ist eine Maske der Wehmut. Jedes Wort, jede Geste lassen erahnen, wie reich das Innenleben dieses Mannes ist, der alles dafür gibt, dass seine Frau den Aufruhr ihrer Gefühle überlebt. Jetzt im Kino

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