Der Standard

Flaute in der T

Carlos Santos ist ein Anker für alle Weltumsegl­er. Der Tischler an der portugiesi­schen Atlantikkü­ste repariert Schiffe aus Holz und gilt als einer der Letzten seiner Zunft. Bald übergibt er seine Werkstatt an ein Museum in Peniche.

- Helge Sobik

Wie gut, wenn man weiß, wie es mit der eigenen Werkstatt eines Tages weitergehe­n wird. Gerade in der Wirtschaft­skrise, erst recht in einer aussterben­den Branche. Wie schön, dass sich endlich einer gemeldet hat, der die Schiffstis­chlerei von Carlos Santos in Peniche an der portugiesi­schen Atlantikkü­ste übernehmen wird, wenn der 67-Jährige keine Lust mehr haben und Hammer, Hobel und Sandpapier endgültig zur Seite legen wird. Das Ortsmuseum übernimmt seine Carpintari­a Naval und demontiert alles: die Werkbank, die mehr als ein halbes Jahrhunder­t alten Maschinen, die Hobel, die Fußballfot­os und die Konzertpla­kate, die Postkarten von Weltumsegl­ern. Und sogar den Playmate-Kalender von 2016, den Carlos ab „Miss Januar/Februar“nicht mehr umgeblätte­rt hat.

All die Monate, die Tage, ihre Daten – das ist egal geworden, seit er vor inzwischen fast zwei Jahren offiziell in Pension gegangen ist und inoffiziel­l genauso weitermach­t wie zuvor. Jeden Tag geht er durch die Rua das Arribas do Mar in die Arbeit, öffnet die beiden großen Tore, damit frischer Wind durch die Werkstatt weht. Dann legt er los. Mit Blick auf den Atlantik. Und auf die blonde Miss Januar/Februar 2016.

Reparieren und ausrangier­en

Früher, da hat Carlos Santos hier ganze Fischerboo­te gebaut. Noch heute repariert er die älteren von ihnen. Es werden immer weniger, weil Fiberglas und Metall sich durchgeset­zt haben, und kaum einer noch viel Geld in den Erhalt seines alten Holzbootes in- vestiert. Eher wird es ausrangier­t und ein modernes angeschaff­t – wenn genügend Geld dafür da ist.

Ersatzweis­e ist seit einigen Jahren neue Kundschaft hinzugekom­men: Es sind die Freizeitse­gler mit ihren liebevoll gepflegten Holzschiff­en, ein paar Einheimisc­he und mehr noch Segler auf Durchreise entlang der Atlantikkü­ste, die zu den Kanaren, nach Madeira und Porto Santo oder von hier aus über die Inseln als Zwischenst­ationen über den Atlantik segeln wollen. Oft rufen welche von ihnen ganz hektisch aus dem Hafen an, weil sie auf die Künste eines Handwerker­s wie Carlos Santos angewiesen sind. Auf den Kennerblic­k, sein Händchen für Holz, sein Know-how über Bootsbau. Und manchmal auch auf sein Improvisat­ionstalent, wenn es darum geht, über Nacht passgenaue­n Ersatz zu fertigen und einen kleinen Schaden zu beheben. Eine Reparatur am Ruder für die Yacht mit Heimathafe­n Bregenz? Ein

Schaden an der Pinne bei einem Boot aus Hamburg? Alles kein Problem.

Drei Schiffstis­chler leben noch in Peniche, dieser 26.500-Einwohner-Stadt rund hundert Kilometer nördlich der Hauptstadt Lissabon, die irgendwann zum Surfer-Hotspot wurde, als sich herumsprac­h, was für Wellen der Ozean hier auf die Strände vor allem am südlichen Ortsrand schiebt. Die beiden anderen Tischler arbeiten fast ausschließ­lich im sechzig Kilometer entfernten Nazaré, nur Carlos Santos hält vor Ort die Stellung. Nachfolger hat keiner von ihnen.

Skizzen auf der Planke

Wie das mit dem Aufhören ist? „Ganz entspannt“, sagt der hagere Mann mit Hornbrille. „Es macht mir noch immer Spaß, seit ich mit 16 damit angefangen habe. Ein Kunstmaler“, setzt er noch wie zur Rechtferti­gung nach, „legt die Pinsel ja auch nicht aus der Hand, sobald er in Pension ist. Er malt einfach weiter.“Er greift nach seinem Bleistift und kritzelt eine Skizze auf eine Planke.

Tatsächlic­h ist er erleichter­t, dass das Stadtmuseu­m im alten Fort in nur 500 Meter Entfernung alles übernehmen und ausstellen wird: „Es hätte mir das Herz gebrochen, hier einfach nur zu entrümpeln. Meine Werkzeuge, all diese Begleiter durch 50 Jahre Berufslebe­n, wegzuschme­ißen, die Tür hinter mir zuzuziehen und für immer zuzusperre­n.“Die Finger der rechten Hand spielen mit einem Bleistifts­tummel, während er spricht. Seine Brille liegt derweil auf der Werkbank. Seine Gesichtszü­ge, der Augenausdr­uck – all das signalisie­rt: Dieser freundlich­e alte Mann in Polohemd, Pulli und Jeans, mit der wettergege­rbten Haut und den Fältchen im Gesicht ist mit sich im Reinen.

Was er als Bootsbauer am liebsten getan hat? „Mit Pinie arbeiten“, sagt er. „Sie fügt sich, ist kooperativ. Sie macht mit bei dem, was man als Tischler mit ihr anstellen will.“Früher hat er in die- ser Werkstatt, die er bereits von seinem Vater übernommen hat, ganze Rümpfe gebaut. Kleinere Fischerboo­te und Segelschif­fe hat er durchs Tor ins Freie geschoben und über den Sand der Straße hangabwärt­s in Richtung Ozean gezogen, sie zu Wasser gelassen und dort weiter ausgebaut.

Vor ein paar Jahren haben sie ihm die Straße asphaltier­t. „Das Verkehrsau­fkommen“, sagten sie nur, „Notwendigk­eit“und „Geht nicht anders“, obwohl hier an verkehrsre­ichen Tagen nur alle zehn Minuten ein Auto vorbeikomm­t. Und spätestens als an der nächsten Kreuzung zwei neue Häuser hochgezoge­n wurden, ging wirklich nichts mehr: zu eng für ein Boot. Die neue Zeit und sein altes Gewerk passten nicht mehr zusammen. Er blieb trotzdem, hat damals einfach einen neuen Monat in seinem Playmate-Kalender aufgeschla­gen und weitergema­cht. Boote hat er seitdem keine mehr gebaut. Aber passgenaue­n Ersatz gefertigt, ausgebaute Teile repariert, sogar Schiffsmöb­el konstruier­t. Aus der Miniwerft am falschen Platz ist ein reiner Reparaturb­etrieb geworden. Die Weltumsegl­er konnten auf ihn zählen – sie können es auch weiterhin.

Ein Leben an Land

Ein eigenes Boot hat sich Carlos Santos nie gebaut: „Ich hätte es natürlich gekonnt. Aber ich kann ja mit anderen rausfahren. Ich habe nie ein eigenes gebraucht. Und ehrlich gesagt, ich bin gar nicht so gerne da draußen auf dem Meer. Es ist das Reich der Fischer und der Seefahrer. Mein Leben spielt sich an Land ab.“In dieser Werkstatt von vielleicht siebzig Quadratmet­ern – und im Stadion von Sporting Lissabon, seinem Lieblingsv­erein.

Früher ist Santos regelmäßig mit dem Auto zu den Heimspiele­n in die Hauptstadt gefahren. Seit die Autobahn mautpflich­tig wurde, ist es ihm zu teuer geworden – und über die Landstraße zieht sich die Fahrt ewig hin. Er verfolgt die Spiele jetzt zusammen mit Freun- den vor dem Fernseher in der Bar. Ihre Stadionatm­osphäre schaffen sie sich auch dort, dafür müssen sie Peniche nicht verlassen.

Wenn es Santos doch einmal nach Lissabon zieht, dann des Kinos wegen. Das in Peniche hat vor Jahren zugemacht – ganz ohne im Stadtmuseu­m wieder aufgebaut zu werden. Santos ist nicht nur belesen, sondern auch leidenscha­ftlicher Cineast. Während der Salazar-Diktatur bis 1974, als ausländisc­he Filme in Portugal weitgehend verboten waren, hat er heimlich geschaut, liebt seitdem Charlie Chaplin und Marilyn Monroe.

Wenn er in derselben Sekunde noch einmal zwanzig wäre und über einen Neustart entscheide­n könnte: Was würde er dann machen? Er legt den Bleistifts­tummel zur Seite, ist kurz konzentrie­rt, sagt schließlic­h lächelnd: „Dasselbe nochmal. Wieder Bootstisch­ler. Wieder hier. Oder etwas mit Film. Am besten auch hier.“

Was aus der blonden Miss Januar/Februar 2016 wird? Nimmt er sie mit nach Hause, wenn er hier eines Tages ganz aufhört? Jetzt lächelt er ein wenig verlegen. „Sie gehört zur Werkstatt und kommt ins Museum. Zu Hause hat sie nichts zu suchen.“

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 ?? Foto: Helge Sobik ?? Schiffstis­chler Carlos Santos in seiner Werkstatt in Peniche.
Foto: Helge Sobik Schiffstis­chler Carlos Santos in seiner Werkstatt in Peniche.
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Foto: Helge Sobik Die im 16. Jahrhunder­t errichtete Festung von Peniche diente während der Salazar-Diktatur als Gefängnis für politische Häftlinge. Heute beherbergt ein Teil des Forts das Regionalmu­seum, in dem unter anderem das Handwerk der portugiesi­schen...

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