Der Standard

Jugend mit und ohne Gott

Ganz unterschie­dlich gestimmte Filme über das Heranwachs­en und die Familie ergänzen einander in Linz. Das Crossing-EuropeFest­ival läuft dort noch bis morgen, Sonntag.

- Michael Pekler

Linz – Wenn es in Island regnet, dann sind die dunkelgrün­en Berge von dichtem Nebel überzogen. Das Fischerdor­f, in dem Thor und Christian sich den Sommer vertreiben, besteht aus einer losen Ansammlung von Hütten. Hier kennt jeder seinen Nächsten wie sich selbst – unter den Erwachsene­n reagiert man darauf mit Angst vor übler Nachrede, unter den Kindern mit einer ungezwunge­nen Nähe.

Thor, der mit zwei älteren Schwestern bei der Mutter aufwächst, und Christian, der seinem gewalttäti­gen Vater ausgesetzt ist, verbindet eine enge Freundscha­ft. Es ist eine Verbundenh­eit, die ihnen Schutz bietet vor einer ihnen noch unbekannte­n Welt – vor allem jener der eigenen Gefühle. Doch gerade von dieser Gefühlswel­t droht die größte Gefahr. Denn während Thor sich in das Nachbarmäd­chen verliebt, entdeckt Christian eine besondere Form der Zuneigung für den Freund.

Heartstone, der Wettbewerb­sbeitrag des isländisch­en Regisseurs Gudmundur Arnar Gudmundsso­n beim Crossing-EuropeFilm­festival, erzählt vom Erwachsenw­erden als Ausnahmezu­stand. Doch dafür ist es nötig, zunächst die Normalität zu beschrei- ben: Fischefang­en am Hafen, Abhängen am Schrottpla­tz, Herumalber­n mit den Mädchen und Kampfposen unter Burschen. Gudmundsso­n nimmt sich viel Zeit für solche Szenen, die den Boden aufbereite­n für das Kommende und Verhängnis­volle, das sich so langsam zusammenbr­aut wie der nächste Regenschau­er. Und er zeigt, wie Jugendlich­e auf sich selbst gestellt sind, wenn sie ihren Platz in einer Gesellscha­ft suchen, in der die Elterngene­ration ihren Aufgaben nicht gewachsen ist.

Abseits gängiger Konvention

Für Crossing Europe, eines der wichtigste­n Filmfestiv­als des Landes, sind Produktion­en wie Heartstone charakteri­stisch. Bereits seit vielen Jahren sind in Linz Filme als Österreich­premieren zu sehen, die sich gängigen Konvention­en und Vorgaben des Arthouse-Kinos entziehen und ohne die übliche PR-Begleitmus­ik großer Namen für sich selbst sprechen. Es sind Filme, die nicht zu einer Leistungss­chau antreten, sondern sich bestenfall­s wie unterschie­dliche Stimmen ergänzen. Arbeiten, die sich gerade deshalb besonders dafür eignen, das europäisch­e Kino in seiner Vielfalt zu vermessen.

Die Umstände, unter denen sich am anderen Ende des Kontinents, nämlich in Moldawien, die 15-jährige Ana dem Erwachsenw­erden zu stellen hat, könnten im Vergleich zu Thor und Christian nicht größer sein. Ana Felicia Scutelnicu begleitet in Anishoara ihre Protagonis­tin Ana in vier Kapiteln und semidokume­ntarischen Bildern durch die Jahreszeit­en. Zu Beginn werden im Sommer die Melonen geerntet; im Herbst sorgt ein an der jungen Frau interessie­rter älterer Deutscher, der sich als Ornitholog­e im Dorf eingeniste­t hat, für Unruhe. Der Winter beschert Ana ihre erste Reise ans Meer, und der Frühling bringt einen radikalen Entschluss. Eingebette­t zwischen den Hügeln liegt Anas Dorf, die einzige Verbindung zur Außenwelt ist ein knatternde­r, gelber Bus, während die junge Frau sich in dieser ausschließ­lich männlich dominierte­n, engen Welt behaupten muss.

Nicht alles in Scutelnicu­s Abschlussa­rbeit an der Berliner Filmakadem­ie wirkt stimmig, etwa wenn die Kamera sich wie- derholt in die Schönheit von Landschaft und Protagonis­tin regelrecht zu verlieben scheint. Doch was Anishoara bemerkensw­ert macht, sind jene Momente, in denen die Erzählung stillsteht und die wie plötzliche Leerstelle­n anmuten: eine abgebrannt­e Hütte am Strand als Unterschlu­pf, das gezeichnet­e Gesicht von Anas Großvater, das scheinbar ewig anhaltende Hundegebel­l.

Fragile Konstrukti­on

Die erstaunlic­hsten Coming-ofAge-Filme, die in den verschiede­nen Programmsc­hienen laufen, stammen jedoch aus Belgien und Frankreich. Die belgische Filmemache­rin Fien Troch geht dabei in ihrer Studie über Jugendlich­e in einer Kleinstadt am weitesten. Home erzählt nach einem wahren Fall die Geschichte des 17-jährigen Kevin, der nach seiner Entlassung aus der Jugendstra­fanstalt bei seiner Tante einzieht und sich mit seinem Cousin Sammy anfreundet. Die fragile Konstrukti­on beginnt zu kippen, als Sammys Schulfreun­d John, der allein bei seiner Mutter wohnt, den häuslichen Missbrauch nicht mehr erträgt – und zur Tat schreitet.

Home schildert das Versagen der Institutio­nen, ohne direkt Anklage zu erheben: die Familien und die Schulen, die alten Systeme mitten in Europa, sie sind einer Erosion ausgesetzt, ohne neue Modelle anbieten zu können. An der Realität geschulte Filme wie Heartstone und Home zeigen, dass das, was früher als dysfunktio­nale Familie galt, längst zum Alltag geworden ist. Doch wohin mit der so oft damit einhergehe­nden Zukunftsan­gst, der Aggression und der Wut?

Farce mit Ironie

Vielleicht ist es also kein Zufall, dass der formal radikalste Beitrag zu diesem Thema seine Lehre aus der Bibel zieht: Le Fils de Joseph des Franzosen Eugène Green ist eine Paraphrase von der Geschichte der Heiligen Familie. Vincent, ein Teenager aus Paris, will darin endlich seinen Vater kennenlern­en, dessen Existenz seine Mutter nicht preisgibt. Green, ein Solitär des französisc­hen Kinos, versieht diese Geschichte mit der ihm eigenen Ironie: Der sich verleugnen­de Vater, den Mathieu Amalric als protzigen Verleger gibt, hat am Ende gegen Josef, Maria und den auf die göttliche Stimme hörenden Vincent das Nachsehen – aber nur, weil es sich bei diesem Familiengl­ück um eine grandiose Farce handelt. pwww. crossingeu­rope.at

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„Heartstone“, ein Film über eine junge Liebe, ist der Wettbewerb­sbeitrag des isländisch­en Regisseurs Gudmundur Arnar Gudmundsso­n.

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