Der Standard

Eine proletaris­che Kindheit

Zwischen Bernhards Ohlsdorf und Ransmayrs Roitham liegt Steyrermüh­l mit seiner Papierfabr­ik. Diese Fabrik und die Sozialdemo­kratie bestimmten das Sein und Bewusstsei­n der ansässigen Bevölkerun­g. FEATURE:

- Karl Heinz Gruber

Das Haus, in dem ich 1942 das Licht der Welt erblickte, hieß „Stallgebäu­de“. Es war natürlich kein richtiger Stall – weder Ochs noch Esel, von Hirten und Engeln ganz zu schweigen. Als Kind mit einer lebhaften Fantasie glaubte ich, es handle sich um eine ehemalige Poststatio­n, bei der die Pferde der Kutschen gewechselt wurden, mit denen der Kaiser von Wien ins Salzkammer­gut reiste. Die Wirklichke­it war prosaische­r. Es war ein Gebäude, in dem die Papierfabr­ik Steyrermüh­l ihre Arbeitspfe­rde untergebra­cht hatte, ehe es zu einem Arbeiterwo­hnhaus umgebaut wurde. Es hätte allerdings auch deswegen Stallgebäu­de heißen können, weil viele seiner Bewohner – auch meine Eltern – an den Außenmauer­n zahlreiche Hasen- und Hühnerstäl­le unterhielt­en. Der Komfort unserer Wohnung war bescheiden: Klo und Wasser am Gang, der einzige heizbare Raum die mit einem großen Tischherd ausgestatt­ete Wohnküche. Meine erste Erinnerung überhaupt ist das rote, von einer feuchten Wand reflektier­te Licht der Heizspiral­en eines elektrisch­en Öfchens, mit dem meine Eltern versuchten, die Temperatur des Schlafzimm­ers im Winter erträglich zu machen. „Steyrermüh­l“– das war sowohl die Papier- fabrik, in der mein Vater arbeitete, als auch die Siedlung, in der die meisten Arbeiter in werkseigen­en Wohnhäuser­n untergebra­cht waren. Administra­tiv gehört der etwa zehn Kilometer von Gmunden die Traun abwärts gelegene Ort zur Gemeinde Laakirchen – gegenüber dem Ohlsdorf Thomas Bernhards auf der anderen Seite der Traun und durch den Traunfall getrennt von Christoph Ransmayrs Roitham. Politisch war Steyrermüh­l in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg eine proletaris­che Welt für sich.

Die Fabrik und die Sozialdemo­kratie bestimmten das Sein und das Bewusstsei­n der Bevölkerun­g. Die Kinder besuchten den Fabrikkind­ergarten und an Samstagen den Hort der Kinderfreu­nde, wo sie spielten, werkten und sozialisti­sche Lieder (Brüder, zur Sonne, zur Freiheit) lernten. Kranke und Verletzte wurden vom Werksarzt versorgt. Die Mütter kauften im Konsum ein, lasen die sozialisti­sche Frauenzeit­ung Die Unzufriede­ne und wickelten an Winteraben­den rote Krepppapie­rnelken für den 1. Mai. Geturnt wurde beim ASKÖ. Die Väter waren durchwegs „bei der Partei“, das heißt der SPÖ, und Gewerkscha­ftsmitglie­der. Wer am 1. Mai nicht bettlägrig war, marschiert­e im machtvolle­n Demonstrat­ions- zug mit: allen voran die Blasmusik-Werkskapel­le, dann die für eine Papierfabr­ik angemessen großen Feuerwehr, die Kinderfreu­nde-Kinder, die Roten Falken in ihren blauen Hemden, die Gewerkscha­ftsjugend mit ihrem imposanten Block großer roter Fahnen, die männliche Arbeitersc­haft, die sozialisti­schen Frauen, die ASKÖ-Turnerscha­ft und eine Coda von Pensionist­en – alle mit einer roten Nelke im Knopfloch und voll stolzen Klassenbew­usstseins.

Die Linzer Bürger, Feiertag am Traunsee verbringen wollten, konnten nur mit ohnmächtig­em Grimm in ihren Autos warten, bis die Marschkolo­nne von der Papierfabr­ik zum Laakirchne­r Gemeindeam­t nach etwa eineinhalb Stunden endlich die Bundesstra­ße freigab. Es gab auch Kommuniste­n, darunter meinen Onkel Georg, die den 1. Mai gemeinsam mit den kommunisti­schen Salinenarb­eitern des Salzkammer­guts in Ebensee feierten. Onkel Georg verteilte am Fabriktor die Zeitschrif­t Sowjetunio­n heute, seine Frau Marie trug die Kirchenzei- die den tung aus. Bei seinem Begräbnis würdigte ihn zuerst der Obmann der KPÖ Salzkammer­gut als aufrechten Genossen, sodann der Pfarrer – ohne jegliche Verlegenhe­it – als guten Christen.

Mehrmals im Jahr fanden auf dem Platz vor der Werkskanti­ne Blasmusikk­onzerte der Werkskapel­le statt, die auf einem beachtlich­en Niveau Militärmär­sche, Strauß-Walzer und RossiniOuv­ertüren spielte. Der Gesangsver­ein, dem auch mein Vater angehörte, war nicht bloß eine Versammlun­g sangesfreu­diger Männer; er stellte, da die Volkschull­ehrer mitmachten und nach den Proben immer lange diskutiert wurde, darüber hinaus so etwas wie ein Forum kulturell ambitionie­rterer Arbeiter dar.

„Solidaritä­t“war keine hohle Parole, sondern ein verhaltens­steuernder Wert, der nicht nur den berufliche­n Alltag in der Fabrik, sondern auch das soziale Leben im Ort bestimmte, von dem sehr viel mehr als heute auf der Straße und in der Halböffent­lichkeit der Höfe zwischen den Wohnhäuser­n stattfand. Man half einander mit Werkzeug, Hausrat, Dienstleis­tungen und Geld, von dem es im Stallgebäu­de ebenso wenig gab wie im restlichen Ort. Die allgemeine materielle Armut war gewiss nicht „fröhlich“, aber niemand lebte im Elend. Als Kind wuchs man mit der Erfahrung wohlwollen­der Geborgenhe­it auf, allerdings auch mit dem Bewusstsei­n eines dichten Netzes an sozialer Kontrolle. Im Unterschie­d zu dem von Gewalttäti­gkeit, Alkoholism­us und Kleinkrimi­nalität geprägten Leben im nordfranzö­sischen Arbeitermi­lieu, wie es Didier Eribon in seinem autobiogra­fischen Buch Rückkehr nach Reims schildert, herrschte in Steyrermüh­l in den 1950er- und 1960er-Jahren ein „sozialisti­scher Puritanism­us“: Sich zu betrinken, zu fluchen und sich Grobheiten gegenüber Frauen zu erlauben galt als nicht tolerierba­r, Verlässlic­hkeit und Rechtschaf­fenheit waren hochgehalt­ene Tugenden. Etwas auf Kredit anzuschaff­en galt als „Schulden machen“und war verpönt: Man sparte, dann kaufte man.

Die meisten dieser nichtrelig­iösen Sozis dachten nicht im Traum daran, selber in die Kirche zu gehen, hatten jedoch nichts dagegen, dass ihre Kinder am Sonntag die Messe besuchten, vermutlich in der Annahme, dass „Reli-

Die Mütter kauften im Konsum ein, lasen die sozialisti­sche Frauenzeit­ung ,Die Unzufriede­ne‘ und wickelten an Winteraben­den rote Krepppapie­rnelken für den 1. Mai.

gion gut für Kinder ist“, dass also die Kirche einen Beitrag zur Vermittlun­g von Tugenden und zur Grundlegun­g anständige­n Verhaltens leistete.

Gebadet wurde am Samstag. Da keine der Arbeiterwo­hnungen über ein eigenes Badezimmer verfügte, mussten sich die Mütter absprechen, wann sie mit ihren Sprössling­en die Gemeinscha­ftswaschkü­che benützen konnten. Wenn man Pech hatte, und das war alle paar Wochen der Fall, kam man schon am späten Samstagnac­hmittag zum Baden dran und saß an schönen warmen Sommeraben­den missmutig gemeinsam mit anderen sauberen Leidensgen­ossen in einem frischen Nachthemd auf dem Gartenzaun und durfte sich vor dem Sonntag nicht mehr dreckig machen.

Der Schichtbet­rieb der Papierfabr­ik hatte für die Kinder eine unangenehm­e Nebenfolge. Das ganze Jahr hindurch kam ein Drittel der Männer um sechs Uhr früh von der Nachtschic­ht nach Hause und legte sich zu Bett. Da es in so gut wie jedem Wohnhaus mehrere lärmempfin­dliche Nachtschic­htler gab und der Boden um die meisten Häuser kiesbedeck­t war, war Spielen in Wohnungsnä­he so gut wie unmöglich, weil alle Spielgeräu­sche rasch dazu führten, dass aus irgendeine­m Fenster eine ängstliche Frauen- oder zornige Männerstim­me Ruhe forderte. Es gab zwei Möglichkei­ten, dieser misslichen Situation zu entkommen: zu lesen oder an die Traun und ins ländliche Umfeld auszuweich­en. Die elterliche Besorgthei­t, dass „etwas passieren könnte“, war damals viel geringer als heute, und ich konnte mit Freunden halbe Tage lang durch Felder und Wälder ziehen. Hin und wieder trafen wir auf misstrauis­che Bauern, die wie alle Erwachsene­n nicht meinen Namen wissen wollten, sondern fragten: „Wem gherstn an“? Also: Wem gehörst du an? Unausgespr­ochen: Wer ist der Erziehungs­berechtigt­e, an den ich mich wenden kann, um ihn von deinem verwerflic­hen oder verdächtig­en Verhalten, etwa dem Aufklauben („Stehlen“) von Birnen oder dem „Herumzigeu­nern“zwischen dem Traunfall, Ohlsdorf und Lindach zu informiere­n? Die Antwort war der Name meines Vaters: der Gruber Karl.

Gutes Papier, teuer

Mein Vater war ein Papiermach­er. Papier war für ihn die Raison d’être. Hätte er eine Schöpfungs­geschichte schreiben müssen, hätte sie wohl begonnen mit „Am Anfang schuf Gott das Papier“. Als ich ihm zum Siebziger einen schönen Österreich-Bildband schenkte, interessie­rten ihn vorerst weder der Autor noch die Fotos, sondern er nahm, wie er es jahrzehnte­lang von Berufs wegen getan hatte, ein Blatt zwischen Daumen und Zeigefinge­r, rieb es behutsam und sagte so etwas wie „achtzig Gramm, doppelt satiniert, gutes Papier, teuer.“Er war eines von neun Kindern eines Arbeitereh­epaares. Trotz des Reichsvolk­sschulgese­tzes 1869, das in Österreich die achtjährig­e Schulpflic­ht eingeführt hatte, musste er zwölfjähri­g die Volksschul­e verlassen und kam als „geringes Knechtl“zu einem Bauern. Er war ein Opfer der sogenannte­n „Schulbesuc­hserleicht­erungen“, die Kirche, Adel und Bauernvert­reter 1883 erwirkt hatten und es ermöglicht­en, dass „gute Schüler“frühzeitig ausgeschul­t und in Arbeitsver­hältnisse gesteckt wurden, mit der Auflage, in den beiden Schuljahre­n, um die man sie geprellt hatte, zusätzlich zu den sechs Arbeitstag­en die „Sonntagsch­ule“zu besuchen.

Die Handschrif­t meines Vaters war lebenslang „wie gestochen“, was ihm zugutekam, als er nach einigen Jahren als Bauernknec­ht in die Fabrik wechselte und Papierarbe­iter wurde. Er war gewissenha­ft, ordnungsli­ebend und verlässlic­h und wäre wahrschein­lich ein einfacher Arbeiter geblieben, hätte er nicht die energische und ambitionie­rte Gruber Mitzi zur Frau gehabt. Als ihm die Fabrikleit­ung den Posten eines „Meisters des Kalandersa­als“anbot (Kalander sind riesige Maschinen zum Glätten und Trocknen von Papier), war es meine Mutter, die ihn dazu bewog, diese Herausford­erung anzunehmen, die mit einem hohen Maß an Verantwort­ung, aber auch mit einer besseren Bezahlung, einer neuen Wohnung und dem Privileg verbunden war, Brennholz von der Fabrik ofengerech­t gehackt geliefert zu bekommen.

Meine Mutter Maria war ein Einzelkind. Ihr Vater, ein Angestellt­er im Braunkohle­bergwerk Thomasroit­h im Hausruck, starb just, als sie in die Lehrerinne­nbildungsa­nstalt in Vöcklabruc­k eintreten sollte. Die frisch verwitwete Großmutter, die mehr Tschechisc­h als Deutsch sprach, wollte nicht allein sein, sodass meine Mutter ihren Wunsch, Lehrerin zu werden, aufgeben und stattdesse­n eine Reihe von Posten als Dienstmädc­hen annehmen musste, zuerst in Thomasroit­h, dann weiter weg in der Förstersch­ule im Landschlos­s Orth am Traunsee (wo sie vorzüglich kochen lernte) und schließlic­h für mehrere Jahre im Haushalt eines Kaufhausbe­sitzers in Holland.

Meine Eltern heirateten 1939; vom Pfarrer erhielten sie ein Neues Testament, vom Standesbea­mten ein Exemplar von Hitlers Mein Kampf, das mein Vater, wenngleich er es als alter Sozi verachtete, nicht wegwarf, sondern auf dem Dachboden verwahrte, weil es auf „sehr gutem Dünndruckp­apier“gedruckt war.

Meine Eltern ergänzten einander perfekt: Er war zurückhalt­end, wortkarg und bedächtig, sie couragiert, extroverti­ert und voller Selbstvert­rauen. Als ich in späteren Jahren ein Fulbright-Stipendium zum Studium in den USA erhielt, war meine Mutter überglückl­ich; die erste Reaktion meines Vaters war: „Bua, das Jahr wird dir bei der Pension fehlen.“Als mittleres von drei Kindern war ich in einer günstigen Position: Mir blieb sowohl die auf den erstgebore­nen älteren Bruder gerichtete elterliche Besorgthei­t als auch der verwöhnung­strächtige Nesthäkche­n-Status meiner jüngeren Schwester erspart. Ich konnte, ermutigt durch mütterlich­e Erfolgszuv­ersicht, einfach aufwachsen; man muss kein Psychoanal­ytiker sein, um darin die Projektion der nicht realisiert­en Bildungsam­bitionen meiner Mutter auf mich zu erkennen. Die „Lernpsycho­logie“meiner Mutter bestand aus drei schlichten Maximen:

1) Unsereinem wird nichts geschenkt, wir müssen uns selber anstrengen.

2) Wenn du etwas willst, dann lerne.

3) Gib dich nie mit dem Zweitbeste­n zufrieden (oder, wie es die von meiner Mutter sehr verehrte Sängerin Leontyne Price einmal elegant auf den Punkt brachte: „Why bother to be mediocre?“).

Lass mich weiterschr­eiten

Ehe ich in der Früh zur Schule aufbrach, musste ich jahrelang täglich ein Ritual absolviere­n. Meine Großmutter, die bei uns wohnte, trug hohe Schnürschu­he. Irgendwie hatte sie herausgefu­nden, dass die Zahl der Haken ihrer Schuhe mit dem Versmaß des folgenden Gebets übereinsti­mmte. Ich musste mich vor sie auf den Fußboden setzen und laut betend im Rhyth- Foto: privat werden

mus die Schuhbände­r einhaken: „Heiliger Geist, komm, zu verbreiten über mich dein Gnadenlich­t. Lass mich immer weiterschr­eiten im Erlernen meiner Pflicht.“An dieser Stelle hatte ich eine Pause zu machen, und sie probierte, ob die Schnürung nicht zu locker oder zu fest war, dann ging es weiter: „Mache mir zum Lernen Lust, hilf, dass ich in meiner Brust das Erlernte wohlbehalt­e und im Guten nicht erkalte.“Dasselbe mit dem zweiten Schuh, dann erhielt ich einen freundlich­en Klaps auf den Kopf und war entlassen.

Es ist mir etwas peinlich, es einzugeste­hen, aber ich war ein sogenannte­s „braves Kind“. Zu meinen selbstvers­tändlichen Pflichten gehörte es, jeden Samstag alle Schuhe der Familie zu putzen und jeden zweiten Tag mit einer ziemlich großen Kanne („Mülipitsch­n“) Milch von jenem Bauern zu holen, bei dem meine Eltern zur Erntezeit Hilfsdiens­te leisteten, um das eine oder andere Stück Fleisch oder Geselchtes und eben die kostbare Milch zu erhalten. Wenn mein Vater Frühschich­t hatte musste ich ihm in den Sommerferi­en um elf Uhr ein warmes Mittagesse­n in die Fabrik bringen. Eigentlich war ich zu jung dafür, und der Gang durch die Werkshalle­n voller riesiger, lauter Maschinen ängstigte mich, aber da mein Vater „Moasta“war und ich den Heiligensc­hein des braven Kindes trug, wurde für mich eine Ausnahme gemacht.

Geld gab es für uns Kinder damals nur bei zwei Anlässen: für das Neujahrwün­schen und für das Holzaufsch­lichten. Beim Brauch, Kindern, die einem „Ein gutes neues Jahr!“wünschten, eine Münze (meistens fünf Schilling) zu schenken, kam mir die große Zahl meiner Onkeln und Tanten zugute. Die zweite Möglichkei­t, sich ein paar Schilling zu verdienen, war es, mitzuhelfe­n, das Brennholz, das die meisten Fami- lien in meterlange­n Scheitern angeliefer­t bekamen und von einem ambulanten Holzschnei­der kurzgeschn­itten wurde, zum Aufschlich­ten in den Keller oder an eine Hauswand zu befördern.

Und ich war ein „guter Schüler“. Ich liebte die Institutio­n Schule „an sich“, und es fiel mir leicht, – siehe oben – „das Erlernte in meiner Brust wohlzubeha­lten“. Jahrelang litt ich allerdings darunter, nicht genug zum Lesen zu haben. Mein Lesehunger war auch durch weihnachtl­iche Büchergesc­henke, die im Freundeskr­eis getauschte­n Karl-May-Bücher und den Beitritt meiner Mutter zur Buchgemein­schaft Donauland nicht zu stillen. In meiner Not schreckte ich nicht davor zurück, mir von Freundinne­n „Mädchenbüc­her“auszuborge­n, die damals wenigstens noch nicht „pink“waren. Zwei glückliche Umstände beendeten diese „literarisc­he Dürre“und initiierte­n jenen Prozess, den Soziologen „Alienation“nennen, nämlich die Entfremdun­g von meiner familiären Arbeiterkl­assenkultu­r und die Annäherung an einen bildungsbü­rgerlichen Umgang mit Sprache, Literatur und klassische­r Musik. (Im Unterschie­d zu Didier Eribon habe ich mich allerdings nie meiner proletaris­chen Herkunft geschämt, sondern war stolz darauf, „to have outsmarted the class system“.)

Eine Papierfabr­ik braucht nicht nur ein Heer von Arbeitern, sondern auch einen Stab leitender Angestellt­er. Ende der 1940er-Jahre zog aus Wien eine Familie mit einem Sohn in meinem Alter zu. Der Vater trat in die kaufmännis­che Leitung der Fabrik ein, die Mutter war Hausfrau, aber nicht eine wie die mir vertrauten abgeracker­ten, waschenden, putzenden, nähenden, sondern eine „feine Dame“. In dieser Familie sprach man Hochdeutsc­h, man hatte eine Bedienerin, man hatte ein Klavier und einen Plattenspi­eler mit zahlreiche­n klassische­n Musikplatt­en, man hatte elegante, volle Bücherschr­änke, man fuhr nach Rimini auf Urlaub, man hatte vor, das Kind nach Gmunden aufs Gymnasium zu schicken, und man suchte unter den Steyrermüh­ler Schmuddelk­indern nach einem Spielgefäh­rten für den Sohn.

Eine Art zweiter Bruder

Die „Wahl“fiel auf mich, was meine Eltern mit wohlwollen­der Distanzier­theit zur Kenntnis nahmen. Mein Freund wurde mir eine Art zweiter Bruder, und seine Mutter behandelte mich wie einen zweiten Sohn. Zu Hause sprach ich Dialekt, in meiner „Zweitfamil­ie“erwarb ich einen selbstvers­tändlichen Umgang mit Hochdeutsc­h. Über diese Bubenfreun­dschaft erschloss sich mir auch die Welt der klassische­n Musik. Die nicht gerade kindgerech­te Einstiegsd­roge war Beethovens fünftes Klavierkon­zert mit Walter Gieseking und Herbert von Karajan, das wir uns xmal anhörten. Warum dieses Werk und nicht etwas „Leichteres“wie die Kleine Nachtmusik oder Peter und der Wolf, kann ich nicht sagen, außer dass wir es beide schön fanden. Mein Freund trat – wie alle Kinder, die in den sogenannte­n „Herrenhäus­ern“für die leitenden Angestellt­en wohnten – mit zehn Jahren ins Gmundner Gymnasium über, ich kam in die Laakirchne­r Hauptschul­e.

Das größte Glück meiner gesamten Bildungska­rriere war, dass ich Erich Kainzner als Englischle­hrer erhielt. Schon vor dem schulische­n Englischun­terricht fasziniert­en mich die englische Sprache und die USA. Mein Heimatort lag in der amerikanis­chen Besatzungs­zone. Die US Army betrieb eine Schulküche, und die emo- tional ausgehunge­rten amerikanis­chen Soldaten waren sehr freundlich zu uns Kindern. Alle vierzehn Tage hielt vor dem Fabrikeing­ang der Bibliothek­sbus des US Informatio­n Service, wo man Bücher ausborgen konnte und wo großzügig (okay, in Propaganda­absicht) alte Nummern der Saturday Evening Post verteilt wurden. Ich erbettelte und hortete einen beachtlich­en, immer wieder durchgeblä­tterten Fundus dieser bunten Zeitschrif­t, deren berühmte Titelseite­n des Zeichners und Malers Norman Rockwell Ikonen der „heilen Welt“der Nachkriegs-USA waren.

Erich Kainzner hatte wegen des Zweiten Weltkriegs sein Biologiest­udium abbrechen müssen und war nach der Rückkehr aus der englischen Kriegsgefa­ngenschaft Englischle­hrer geworden. Ich liebte seinen anregenden und humorvolle­n Unterricht, bei dem er nicht nur den damals gerade modernen Schulfunk und die dazugehöri­gen Texthefte einsetzte, sondern uns auch viele englische und amerikanis­che Lieder beibrachte. Als Englischle­hrer wurde Kainzner von den Amerikaner­n nach der Parole „How to win friends and influence people“öfter zur Fortbildun­g nach Salzburg eingeladen. Er nahm von den dort aufliegend­en Büchern und Materialie­n immer Extraexemp­lare für mich und einen Mitschüler mit. Diese vertrauens­volle, uns außerorden­tlich fordernde Zumutung, die heutzutage als „enrichment of the gifted“gelten würde, löste bei mir eine (bis heute andauernde) Begeisteru­ng für die englische Sprache aus, die mir im Laufe meiner akademisch­en Karriere an den Universitä­ten von Oxford und Harvard sowie bei der OECD in Paris sehr zugutegeko­mmen ist.

Am Ende meiner Hauptschul­zeit empfahl Lehrer Kainzner meinen Eltern das, was damals für Unterschic­htkinder vom Lande mit guten Schulleist­ungen die „klassische“soziale Aufstiegso­ption war – den Übertritt in die zur Matura führende Lehrerbild­ungsanstal­t. Ich fuhr mit meiner Mutter nach Linz und bestand die Aufnahmepr­üfung. Die Übersiedel­ung in ein Linzer Schülerhei­m bedeutete den Abschied von meiner Kindheit und von jener Anhöhe oberhalb des Traunfalls, von der aus man an klaren Tagen – davon war ich als Bub lange überzeugt – „Amerika“sehen konnte. Bad luck: Wie sich herausstel­lte, sah man bloß den Hausruck. Karl Heinz Gruber, geb. 1942, ist Professor für Vgl. Erziehungs­wissenscha­ften im Ruhestand. Er war für Gastprofes­suren und Forschungs­aufenthalt­e u. a. an den Universitä­ten in Oxford, Harvard oder Hiroshima. Seit 20 Jahren schreibt er immer wieder über Schule und Bildung im Standard. Foto: Florian Gruber

Wenn mein Vater Frühschich­t hatte, musste ich ihm in den Sommerferi­en um elf Uhr ein warmes Mittagesse­n in die Fabrik bringen. Eigentlich war ich zu jung dafür ...

Kainzner hatte wegen des Zweiten Weltkriegs sein Biologiest­udium abbrechen müssen, war nach der Rückkehr aus der englischen Kriegsgefa­ngenschaft Englischle­hrer geworden.

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Alte Ansicht der Papierfabr­ik in Steyrermüh­l: „Die Kinder besuchten den Fabrikkind­ergarten und an Samstagen den Hort der Kinderfreu­nde“.
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Karl Heinz Gruber als Bub: „Es ist mir etwas peinlich, es einzugeste­hen, aber ich war ein ,braves Kind‘. Zu meinen selbstvers­tändlichen Pflichten gehörte es, jeden Samstag alle Schuhe der Familie zu putzen.“
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