Sinkende Armut lässt Experten rätseln
Die Zahl der Armen sinkt langsamer, als die offizielle Statistik nahelegt. Dass sie aber überhaupt sinkt, gibt Fachleuten Rätsel auf. Denn Arbeitslosigkeit und Preise für Wohnungen und Lebensmittel sind zuletzt stark gestiegen.
Wien – Die Armut in Österreich befindet sich im Sinkflug. Je nach Indikator sind ihr entweder seit 2008 über 150.000 Menschen entflohen, oder sie hat sich sogar halbiert. Das legen Zahlen der Statistik Austria nahe, die am Dienstag präsentiert wurden. Blickt man genauer auf diese, geben sie jedoch Rätsel auf.
Unter Fachleuten und auch in der Statistik Austria ist es ein offenes Geheimnis: Die offiziellen Armutszahlen aus 2008 sind nicht sehr aussagekräftig und wahrscheinlich zu hoch gegriffen. Sie werden aber als Vergleich herangezogen, weil es sich die EU zum Ziel gesetzt hat, zwischen 2008 und 2020 ganzen 20 Millionen Menschen aus der Armut zu helfen. Daran hält sich auch die Statistik Austria.
Weniger Arme trotz Krise
Die Zahlen von 2008 sind unplausibel, weil im Jahr darauf zigtausende Haushalte aus der Armut gekommen wären. Damals ist aber aufgrund der Finanzkrise in den USA die Wirtschaft in Österreich massiv eingebrochen.
Egal, welcher Armutsindikator herangezogen wird: Der Vergleich mit 2008 verzerrt die Erfolge in der Reduzierung der Armut. Sie gibt es aber trotzdem. Die Zahl der Menschen, die sich unter anderem keine Waschmaschine oder einen Urlaub leisten können, sinkt. Ignoriert man die Daten von 2008 und zieht 2009 als Vergleich heran, ist die Quote seither von 4,6 auf drei Prozent gesunken. Der Rückgang ist stärker als die Schwankungsbreite, heißt es seitens der Statistik Austria. Vorsichtig lasse sich das auch beim breitesten Indikator – der Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung – so interpretieren.
Schon bisher waren Sozialforscher erfreut darüber, dass die Armut in Österreich in der Krise nicht gestiegen sei. Dass sie jetzt aber sogar zurückgeht, obwohl die Arbeitslosigkeit und die Wohnungs- und Lebensmittelpreise so stark gestiegen sind, kann sich niemand erklären. „Ich rätsele“, sagt Martin Schenk von der Diakonie, einer der renommiertesten Armutsforscher des Landes. „Plausibler wäre es umgekehrt.“
Österreich steht gut da
Österreich stehe im internationalen Vergleich jedenfalls sehr gut da, sagt Schenk. „Der Sozialstaat funktioniert.“Es gebe aber trotzdem noch zu viele Arme, Migranten und Alleinerzieher seien seit jeher betroffen. Zusätzlich trifft es jetzt auch ältere Langzeitarbeitslose, sagt Schenk: „Die sind seit der Krise eine Riesengruppe.“
Was kann die Politik tun? „Die Wohnkosten sind ein großes Thema, viel mehr als früher. Der soziale Wohnbau kann da helfen. Wir brauchen aber auch mehr Beratung für Leute, die vor der Delogierung stehen. Da kann man oft das Schlimmste verhindern, etwa mit Ratenzahlungen. Und wir müssen Eltern, die es schwer haben, in den ersten Jahren noch viel mehr mit ihren Kindern helfen. Das sind entscheidende Jahre.“