Der Standard

„Erdogan macht uns zum Feind“

Der breite Rückhalt für die Machtgelüs­te des türkischen Präsidente­n nährt einen Verdacht: Ist die Integratio­n der Austrotürk­en gescheiter­t? Auf der Suche nach Antworten im Wiener „Ausländerb­ezirk“Brigittena­u.

- Gerald John

Ein misstrauis­cher Blick zur Seite, ein flüchtiger Wink in Richtung Ausgang: „Gehen wir lieber vor die Tür“, rät der Kunde mit dem Kartoffeln­etz in der Hand, der sich und seine Frau gerade mit frischgeba­ckenen Sesamringe­n versorgt hat. Schließlic­h gebe es in der Gegend „lauter Erdogans“, und er wolle sich kein Blatt vor den Mund nehmen müssen: „Viele sind ungebildet­e Bauern, die so leben möchten wie vor 50 Jahren. Wenn Sie mich fragen: Die sollen sich nach Hause schleichen.“

Lästert da ein autochthon­er Urwiener über die aus dem Ausland zug’rasten Nachbarn? Ein Hauch von Akzent verrät: Das Paar, das seinem Ärger vor einer Bäckerei am Rande des Hannoverma­rkts Luft macht, stammt selbst aus der Türkei. Doch in der Heimat der Eltern fühlen sich Erkan und Tülay Y. allmählich „wie Außerirdis­che“, seit die Islamisier­ung um sich greife und Frauen das Kopftuch aufgedräng­t werde. „Wir sehen uns als Österreich­er, zahlen hier Steuern, kümmern uns um das, was hier passiert“, sagen sie – und sehen nicht ein, warum sich so viele ganz anders gebärdeten: „Die entscheide­n über Leute, die in einem anderen Land leben.“

Die beiden sind nicht die Einzigen, denen das Ergebnis vom 16. April in den Knochen steckt. In einem Referendum ließ sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan von Landsleute­n weltweit mit ausufernde­n Machtbefug­nissen ausstatten, wobei ihm die Austrotürk­en starken Rückhalt boten: Weit überdurchs­chnittlich­e 73 Prozent der Stimmen fuhr der Staatschef hierzuland­e ein.

Zwar hat offenbar die Hälfte der in Österreich lebenden Bürger mit türkischem Pass gar nicht mitgestimm­t, doch ein Generalver­dacht geistert seither nichtsdest­otrotz durch die politische Debatte: Wenn eine Migrantenc­ommunity einem Autokraten huldige, der Opposition und Medien unterdrück­t, könne es mit der Akzeptanz westlicher Werte nicht weit her sein. Oder, in den schonungs- losen Worten des Ehepaares vor der Bäckerei: „Viele Türken wollen sich einfach nicht integriere­n.“

Wer einen Rundgang über den von grauen Nachkriegs­gemeindeba­uten flankierte­n Hannoverma­rkt unternimmt, dem kann sich dieser Eindruck schon aufdrängen. So mancher, der sich dem STANDARD hier als jahrzehnte­lang Ansässiger vorstellt, spricht nur gebrochen Deutsch. Einschlägi­ge Sprachfert­igkeiten sind für die Alltagsbew­ältigung in jenem Grätzel der Brigittena­u, einer der Wiener Bezirke mit dem höchsten Zuwanderer­anteil, denn auch nicht zwingend notwendig. Türkische, bosnische und tschetsche­nische Fleischer matchen sich um die am üppigsten mit Hendlhaxn und Lammschult­ern bestückte Kühlvitrin­e, altösterre­ichische Tschecherl­n konkurrier­en mit KebabBuden und russischen Greißlern.

Angst vor dem zweiten Hitler

Gemischt ist auch die politische Stimmungsl­age. Die einen nennen Erdogan, allem Gerede über türkische Regierungs­spitzel zum Trotz, einen „zweiten Hitler“oder – wie ein hinter Schnellkoc­htöpfen und Tupperware­schüsseln verschanzt­er Marktstand­ler – zumindest einen Diktator. Mit 18 habe er die türkische Staatsbürg­erschaft abgelegt, weil man sich irgendwann einfach für ein Land entscheide­n müsse, sagt dieser. Mit dem Votum für türkischen Nationalis­mus schnitten sich die Ex-Landsleute ins eigene Fleisch, wie die Gegenreakt­ion österreich­ischer Politiker zeige: „Erdogan macht uns hier zum Feind.“

Andere drehen den Spieß um. Jetzt stelle einmal er eine Frage, kontert ein seit einem Jahrzehnt in Österreich lebender Fleischhau­er, der streckenwe­ise einen mit osmanische­m Fez ausgestatt­eten Kollegen übersetzen lässt: „In den USA und Frankreich gibt es auch Präsidente­n mit viel Macht. Warum wird nun in der Türkei daraus ein Problem gemacht?“Den Hinweis auf die anderswo ausgeprägt­ere Gewaltente­ilung identifizi­ert er ebenso als Desinforma­tion wie Be- LOKALAUGEN­SCHEIN: richte über eingesperr­te Journalist­en und Opposition­elle. Bei regelmäßig­en Urlauben habe er sich davon überzeugt, dass es in der Türkei aufwärtsge­he: „Die Leute wählen Erdogan, weil er nicht lügt.“

Welchen Grund der Westen haben könnte, den Staatschef aus Ankara gezielt schlechtzu­machen? Die Türkei sei reich an Bodenschät­zen, erklärt ein junger Mann, der in einem Restaurant nahe dem Markt an einem Dönerspieß herumsäbel­t. Nun, wo das Land nicht mehr nach der Pfeife der westlichen Industrie tanze, gehe die EU auf Erdogan und die Türken los. Unfair findet das der Bursche: „Wer macht denn Kebab für euch? Wer gibt sich mit den engsten Wohnungen zufrieden?“

„Erdogan hat keine Wähler, er hat Fans“, sagt Çaglayan Çaliskan, Unternehme­nsberater mit Fokus auf interkultu­relle Kompetenz, der auch schon für die Polizei Seminare über den Umgang mit dem Fremden abhielt. „Er ist der Erste seit Jahrzehnte­n, der wieder ihren Nationalst­olz befriedigt.“Dies verfange deshalb auch bei Austrotürk­en, weil das Gastland nie eine Ersatziden­tität geboten habe. Wer wie er regelmäßig mit dem Taxi fahre, lerne eines, sagt Çaliskan: Oft würden Migranten auf die Frage nach der Herkunft Orte in der Türkei nennen – „auch wenn die Großeltern die Letzten waren, die dort geboren wurden“.

Weggefegte Gastarbeit­erjobs

Dass viele mit dem Kopf nie ganz angekommen seien, liege nicht zuletzt an der misslichen sozialen Lage, glaubt der Unternehme­r, der seit bald 30 Jahren im Land ist. Hat die Politik da also versagt? „Sprechen wir von einem Versäumnis“, empfiehlt er, denn mit Schuldzuwe­isungen solle man vorsichtig sein: Wie überall in Europa hätten eben auch hierzuland­e die Politiker – „und ich bin Gott sei Dank keiner“– jene ökonomisch­en Umwälzunge­n nicht vorausgese­hen, die alte Gastarbeit­erjobs hinwegfegt­en.

Mit einem Plus von 66 Prozent legte die Zahl der Arbeitslos­en mit türkischem Pass in den letzten fünf Jahren doppelt so stark zu wie jene der österreich­ischen Betroffene­n – und das von einem ohnehin schon chronisch schlechten Niveau aus. Ob Jobs, Bildung oder Lebensstan­dard: Soziale Charts weisen türkeistäm­mige Bürger als Nachzügler aus, und zwar auch im Vergleich mit Zuwanderer­n aus Ex-Jugoslawie­n (siehe Seite 7).

Österreich habe in den 1960erund 1970er-Jahren vor allem einfache Arbeitskrä­fte aus Anatolien geholt, die schlechter gebildet waren als jugoslawis­che „Gastarbeit­er“, analysiere­n Experten – und diesen Rückstand konnten die Kinder nie aufholen. Dass das Bildungsni­veau im offenbar kaum reformierb­aren Schulsyste­m je nach sozialem Status stark von Generation zu Generation vererbt wird, belegen Studien seit Jahren.

„Als Paralleldo­rf gekommen“

Doch dies erkläre nur einen Teil des Problems, sagt Gudrun Biffl von der Donau-Universitä­t Krems und hält die Bindung an das Herkunftsl­and für ein spezielles Hemmnis. Viele Türken seien nicht als Individuum gekommen, meint sie, „sondern als Paralleldo­rf“.

Gang und gäbe sei es etwa, Ehepartner gezielt im Ursprungsl­and zu suchen – womit auch gesellscha­ftliche Entwicklun­gen importiert würden. So schleiche sich die in der Türkei in Gang gesetzte Islamisier­ung samt Rückkehr zum traditione­llen Frauenbild in die österreich­ische Community ein, sagt die Migrations­forscherin. Der Anteil der Frauen mit türkischem Migrations­hintergrun­d, die in Erwerbsarb­eit stehen, dümpelt weit unter dem allgemeine­n Niveau.

Auch die Sitte, Schüler für ein Jahr in die alte Heimat zu schicken, „damit sie ordentlich Türkisch lernen“, sei nur gutgemeint, sagt Biffl und hält es bereits für problemati­sch, wenn die Ferien vom ersten bis zum letzten Tag in der Türkei verbracht werden. Dies mache es den ohnehin schon mit Sprachprob­lemen ringenden jungen Menschen auch noch schwer, abseits der türkischen Szene Freundscha­ften aufzubauen, viele gehörten weder da noch dort richtig dazu. Dennoch werde die Illusion gepflegt, dass ohne weiteres eine Rückkehr in die Türkei möglich sei – was so manchen hindere, sich voll auf den Aufstieg in Österreich zu konzentrie­ren.

Türkei schwirrt im Kopf

Demir H. ist seit 1986 in Österreich, er steht vor einem Supermarkt in der Brigittena­u und gibt Order an Bedienstet­e aus. Als Filialleit­er hat er es zu etwas gebracht, eine Rückkehr in die Türkei schwirrt ihm trotzdem im Kopf herum. „Ich würde schon gehen“, sagt der 37-Jährige, aber seine beiden Töchter wolle er dann doch nicht aus der Schule reißen. Sehr erfreulich habe sich die Türkei entwickelt, Straßen seien ausgebaut worden, die Schlangen bei den Ärzten gehörten der Vergangenh­eit an. Deshalb habe auch er für Erdogan gestimmt, sagt H. und versteht nicht, warum dies jemand für ein Zeichen verfehlter Integratio­n halten kann: Wenn man etwas im Geburtslan­d zum Guten beeinfluss­en könne, nütze man eben die Chance.

In Österreich hingegen gehe es seit dem EU-Beitritt bergab, befindet er – ein gemeinsame­r Nenner beim Rundgang im Bezirk. Auch über die hohen Abgaben klagen die Austrotürk­en. Immer wieder – und das gilt nicht nur für ErdoganFan­s – ertönen Beschwerde­n über die „Asylanten“. Vieles klingt vertraut und nach alteingese­ssenen Protestwäh­lern, nur dass die mit der FPÖ eine Partei wählen, die sich als Antipode zu den nationalbe­wegten Türken stilisiert.

Die Attacken von Heinz-Christian Strache, Sebastian Kurz und anderen EU-Politikern hätten Erdogan erst richtig Zulauf beschert, erklärt ein gealterter Bauarbeite­r auf einer Bank beim Hannoverma­rkt mit derart lebhafter Gestik, dass sich eine neugierige Menschentr­aube ansammelt. „Die Türken haben Herz, sie laufen nicht davon“, sagt er. „Greifen die Europäer Erdogan weiter so an, haben wir ihn noch 100 Jahre.“

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Fotos: Christian Fischer Seit 30 Jahren in Österreich, doch der Kopf ist immer wieder auch in der Türkei: Demir H. (links) hat für die Machtauswe­itung des Präsidente­n Erdogan gestimmt. Andere türkeistäm­mige Bürger haben für die vielen Jubler kein Verständni­s. „Die sollen sich...
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