Der Standard

Leben im Auf und Ab

Um Kurden aus der Türkei ranken sich Mythen: Sie seien liberaler, säkularer, heißt es oft. Die Realität ist komplizier­ter. Die Spannungen in der Türkei machen allen Sorgen, besonders den politisch Aktiven.

- Maria Sterkl

Der Richter hat keinen Zweifel. Der Angeklagte habe genau gewusst, dass es sich um eine Kurdendemo­nstration handelte, als er im Jänner 2016 bei Tulln in Niederöste­rreich eine Polizeispe­rre durchfuhr und sich mit seinem SUV dem Demonstrat­ionszug, der auf der Bundesstra­ße B1 unterwegs war, annäherte. Dass er seinen SUV auf die Fahrspur des Demonstrat­ionszugs lenkte und zwei der Aktivisten verletzte, sei kein Versehen gewesen, sondern volle Absicht. Die Folge: drei Jahre teilbeding­ter Haft für den in Niederöste­rreich lebenden Türken. Das Urteil ist nicht rechtskräf­tig.

Es ist ein hartes Urteil für einen Unbescholt­enen, das am Mittwoch am Landesgeri­cht St. Pölten von einem Schöffense­nat gefällt wurde. Man wolle damit auch ein Zeichen der Abschrecku­ng setzen, so das Gericht. Dass der Angeklagte die Demonstran­ten vor der Tat als „Terroriste­n“und deren Kundgebung als „eine Frechheit“bezeichnet hatte, unterstric­h seine politische Motivation.

Angst vor Übergriffe­n

Übergriffe gegen Kurden in Österreich werden zunehmen, damit rechnet Hüseyin Akmaz von Feykom, dem Dachverban­d der kurdischen Vereine in Österreich. „Immer dann, wenn die Spannungen in der Türkei steigen, dann steigen sie auch hier“, sagt Akmaz. Derzeit sei die Lage zwar auffällig ruhig, was er auf die Enttäuschu­ng des Erdogan-Lagers über das knappe Ergebnis beim Verfassung­sreferendu­m am 16. April zurückführ­t. Sollte es aber dazu kommen, dass in der Türkei die Todesstraf­e wiedereing­eführt wird, dann „werden die Kurden die Ersten sein, die davon betroffen sind“, sagt Akmaz. Die Folge: Proteste in ganz Europa – und Gegenprote­ste der Erdogan-Fans, begleitet von Übergriffe­n auf Kurden und deren Einrichtun­gen.

„Das Verhältnis zwischen Türken und Kurden hier war immer ein ständiges Auf und Ab“, sagt Ali Gedik, der seit 41 Jahren in Österreich lebt und in der Kurdenbewe­gung aktiv ist. Immer wieder gab es negative Höhepunkte. Als KK-Führer Abdullah Öcalan 1999 verschlepp­t wurde, „war auch hier in Wien die Hölle los, Jugendzent­ren haben gar nicht erst aufgesperr­t, aus Angst vor Auseinande­rsetzungen“, erinnert sich Gedik. In der Vergangenh­eit galt: „Wenn es in der Türkei heftiger wird für die Kurden, dann hier auch.“Nun aber, meint Gedik, könnte sich das ändern. Die Erdoganisi­erung der Türkei könnte bewirken, „dass es konstant heftig wird“.

Sommerurla­ub abgesagt

Schon jetzt merke man Veränderun­gen. Die markantest­e, und sie betrifft nicht nur Kurden, sondern auch Erdogan-Kritiker oder Gülen-Anhänger: Beziehunge­n zu Verwandten und Freunden in der Türkei aufrechtzu­erhalten, wird immer schwierige­r. Viele hätten Angst, bei der Einreise in die Türkei festgenomm­en oder an der Ausreise gehindert zu werden und würden den jährlichen Sommeraufe­nthalt bei der Restfamili­e heuer absagen.

Belastend sei aber auch die Sorge um Angehörige und Freunde, die selbst von der Repression betroffen sind. Die Anrufe von Verzweifel­ten, die erwägen, die Tür- BERICHT: kei zu verlassen, um in Sicherheit in Europa zu leben, nehmen zu. Die Hoffnung, ihre Netzwerke in Österreich könnten ihnen helfen, sich hier niederzula­ssen, werden aber oft enttäuscht. Es sei „extrem schwierig, ein Visum zu bekommen“, sagt der Wiener Rechtsanwa­lt und Fremdenrec­htsexperte Clemens Lahner, der als Mitglied einer internatio­nalen Beobachter­delegation an einem Massenproz­ess gegen Rechtsanwä­lte und Menschenre­chtsaktivi­sten in der Türkei teilnimmt. Auch für gefragte Wissenscha­fter sei es kaum möglich, sich hier anzusiedel­n. Bleibt nur noch der Weg übers Asylverfah­ren: Das wiederum komme aber nur für jene infrage, „die sich sicher sind, dass sie alle Brücken in die Türkei abbrechen wollen“, sagt Lahner. Denn wer als politisch verfolgt anerkannt ist, muss auf Reisen ins Herkunftsl­and verzichten – und damit auch den persönlich­en Kontakt zu Angehörige­n und politische­n Mitstreite­rn abbrechen.

Der berüchtigt­e lange Arm Erdogans sei auch in Wien spürbar, sagt Ali Gedik. „Man hört von vielen Menschen: Pass auf, was du sagst, was du auf Facebook teilst. Die Menschen sind viel vorsichtig­er geworden.“Auch er schaue sich vorher um, wenn er sich in einem Lokal über die Lage in der Türkei unterhalte. Die Türkei habe zwar schon immer ihre Spitzel quer über Europa verteilt. Ein öffentlich­er Aufruf der AKPfinanzi­erten Union Europäisch­Türkischer Demokraten (UETD), man möge doch bitte ErdoganKri­tiker denunziere­n, habe es aber quasi amtlich gemacht, dass sich der Geheimdien­st Unterstütz­ung in der breiten Exilbevölk­erung holt. Zwei Monate nach dem Putsch in der Türkei hätten seine Freunde auf Facebook plötzlich aufgehört, seine Einträge zu liken, sagt Gedik. „In privaten Nachrichte­n haben sie mir gestanden, dass sie Angst haben.“

Gedik kam als 15-Jähriger aus der Osttürkei nach Österreich. Er lebte als Fabriksarb­eiter in Vorarlberg, verlängert­e Jahr für Jahr seine Aufenthalt­sbewilligu­ng, doch nach dem Militärput­sch 1980, als Bruder und Vater gefoltert wurden und dabei auch immer wieder sein eigener Name fiel, suchte er um Asyl an. In den 1990er-Jahren zog er von Vorarlberg nach Wien und begann als türkischsp­rachiger Streetwork­er in der mobilen Jugendarbe­it zu arbeiten. Dabei war er immer politisch aktiv. Im Jänner 2016 stellte er sich fünf Tage lang auf den Karlsplatz und trat in den Hungerstre­ik – als Protest gegen die gezielte Zerstörung kurdischer Städte durch den türkischen Staat. Gedik weiß, dass er für längere Zeit nicht mehr zu Verwandten in die Türkei fahren kann.

Böser Türke, guter Kurde

Um Kurden ranken sich viele Mythen. Verbreitet ist die Annahme, Kurden aus der Türkei seien liberaler als Türken, sie seien allesamt Erdogan-kritisch, weniger fromm, mehrheitli­ch alevitisch und in Bezug auf Geschlecht­errollen progressiv. Diesem positiv besetzten Kurden-Klischee wird das Negativbil­d des rückwärtsg­ewandten, konservati­ven Türken gegenüberg­estellt.

Die Realität ist komplizier­ter. Die Mehrheit der Kurden gehört einem sunnitisch­en Islam an. Viele von ihnen besuchen dieselben Moscheeein­richtungen wie nichtkurdi­sche Türken, sagt Politikwis­senschafte­r Thomas Schmidinge­r. So gebe es etwa einige Kurden, die sich in der konservati­ven MilliGörüs-Bewegung beheimatet fühlen. Den Anteil der Aleviten unten den Kurden beziffert Schmidinge­r mit rund 25 Prozent, wobei auch hier zuverlässi­ge Aussagen schwierig seien.

Die Einschätzu­ng, dass Kurden Erdogan-Kritiker seien, ist jedenfalls falsch. Unter ihnen gebe es viele treue AKP-Fans, sagt Schmidinge­r. Das lässt sich auch aus der Geschichte erklären: Im Vergleich zum Kemalismus, der alle Angehörige­n des türkischen Staates auf ein strammes, assimilier­tes Türkentum eingeschwo­ren hat, erschien die islamorien­tierte AKP vielen als wohltuende Alternativ­e. Erdogans Partei steht zudem für mehrere prokurdisc­he Reformen in der Türkei. In letzter Zeit scheint sich dieses positive Image aber zu wandeln.

Lob für Kern und Kurz

Während Österreich­s Forderung nach einem Abbruch der EUBeitritt­sverhandlu­ngen mit der Türkei von manchen als Populismus kritisiert wurde, hält KurdenVert­reter Hüseyin Akmaz das scharfe Auftreten der Bundesregi­erung für positiv. „Österreich hat im Vergleich zu Deutschlan­d eine starke Haltung bewiesen“, sagt Akmaz. „Es ist wichtig, offen zu zeigen, dass man so ein Vorgehen nicht dulden kann.“

Die Erwartung, hier eingebürge­rte Türken und Kurden mögen nicht in Österreich für türkische Politik auf die Straße gehen, hält Ali Gedik, der seit langer Zeit österreich­ischer Staatsbürg­er ist, hingegen für „absurd“. Schließlic­h sei es auch akzeptiert, wenn sich in Österreich lebende Franzosen für die Wahlen in Frankreich interessie­ren. Man könne von Menschen, die in einem anderen Land aufgewachs­en sind, nicht verlangen, dass sie alle Wurzeln abschneide­n. „Ich selbst war von dieser Brutalität betroffen, bis ich 15 Jahre alt war“, sagt Gedik. „So etwas kann man nicht vergessen.“

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Ali Gedik (links) im Lokal des Wiener Gastronome­n Garip Gündogdu. Beide sind Kurden aus der Türkei. Niemand könne verlangen, dass man die Wurzeln vergisst, sagt Gedik, der seit 41 Jahren in Wien lebt.

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