Der Standard

„Wir stimmen auch über die EU ab“

Wer am Sonntag Marine Le Pen die Stimme gibt, tut das nicht unbedingt aus rechter Gesinnung: Oft könnte auch die tiefe Enttäuschu­ng vieler Franzosen über die Europäisch­e Union ein Grund dafür sein.

- Stefan Brändle aus Villers-Cotterêts

REPORTAGE: Die Meinungsfo­rscher sind sich einig: Marine Le Pen wird am Sonntag wohl nur etwa 40 Prozent der Stimmen erhalten und damit klar gegen den Parteilose­n Emmanuel Macron verlieren. Bloß, mit Umfragen ist es so eine Sache. „Die einen werden sagen, sie wählen Le Pen, und sie kreuzen dann doch Macron an. Und die anderen machen es umgekehrt“, erklärt ein älterer Passant vor dem Zeitungsge­schäft in Villers-Cotterêts und kreuzt, um das Gesagte bildhaft zu machen, seine beiden Zeigefinge­r.

Und wen wählt er selbst? Der Grauhaarig­e lacht nur. Gut, weniger direkt gefragt: Was hält er vom lokalen Bürgermeis­ter Franck Briffaut, Mitglied des Front National (FN)? Schulterzu­cken, dafür zischt aber seine Frau: „Besser als sein linker Vorgänger ist er allemal!“

So antworten manche der 11.000 Einwohner von Villers-Cotterêts, 70 Kilometer nordöstlic­h von Paris. Niemand mag zugeben, den FN-Kandidaten gewählt zu haben – aber ebenso hat niemand etwas an ihm auszusetze­n. Im Gegenteil, im Spielzeugl­aden beklagt eine junge Verkäuferi­n, dass es „immer mehr Flüchtling­e“im Ort gebe.

Im ersten Durchgang zur Präsidents­chaftswahl vor zwei Wochen holte Marine Le Pen in Villers-Cotterêts 34,3 Prozent der Stimmen, 15 Prozent mehr als Macron. Bei den Gemeindewa­hlen 2014 erhielt der FN 41,5 Prozent; seither regiert Briffaut im Rathaus.

Leben von der Vergangenh­eit

Villers ist einer jener vergessene­n „periurbane­n“Orte am Rande des Pariser Großraums, wo nicht mehr viel gedeiht außer der Arbeitslos­igkeit. Das Landstädtc­hen lebt von seiner Vergangenh­eit, im Tourismusb­üro erzählt die Angestellt­e, wie König François I. im hiesigen Schloss im Jahr 1539 Französisc­h zur Amtssprach­e bestimmt habe; und Richtung Bahnhof stehe das Geburtshau­s von Alexandre Dumas (Die drei Musketiere, Der Graf von Monte Christo). Und in beiden Weltkriege­n sei Villers ein wichtiger Schauplatz gewesen.

Zur neuen französisc­hen Revolution – der von rechts – schweigt die junge Frau auf Weisung des Rathauses. Dabei macht FN-Bürgermeis­ter Briffaut gar nicht den Eindruck eines Rechtsextr­emen: Der distinguie­rte, leutselige Gemeindevo­rsteher erzählt, wie er probiert, den lokalen Hauptarbei­tgeber Volkswagen im Ort zu behalten. An diesem Tag versucht er gerade, den Konzern mit einem ansässigen Lederpolst­erherstell­er zusammenzu­bringen.

Die Deutschen haben in Villers bereits Teile ihrer Frankreich-Verteilzen­trale abgebaut und in die Nähe des Pariser Flughafens Roissy verlegt – dort gibt es bessere Verkehrsve­rbindungen und besser ausgebilde­tes Personal. Dass VW einmal ganz abziehen könnte, mag sich Briffaut gar nicht erst vorstellen: Das wäre eine soziale Katastroph­e ohnegleich­en.

In Briffauts Büro prangt ein Porträt von Dumas, dessen Vater unter Napoleon der erste schwarze General Frankreich­s gewesen war. Mit Hautfarben hat der 59jährige Ex-Militär kein Problem: „Als mir ein Mitbürger einmal zuraunte, er wähle den Front National, weil ihm ein Araber das Motorrad geklaut habe, stellten sich mir die Nackenhaar­e auf.“

Briffaut schüttelt den Kopf über den FN-Interimsch­ef Jean-François Jalkh, der in Paris vergangene Woche zurücktret­en musste, weil er den Einsatz des Gases Zyklon B in den Vernichtun­gslagern der Nazis als „technisch unmöglich“bezeichnet hatte. Revisionis­mus ist nicht Briffauts Ding. Auf JeanMarie Le Pen, der die Gaskammern der Nazis als „Detail der Geschichte“bezeichnet, lässt er aber auch nichts kommen.

Gegen die „Oligarchen“

Beim Front National macht Briffault aus einem anderen Grund mit: „Gegen die EU!“Mit Verve führt er aus, wie der starke Euro der französisc­hen Wirtschaft schade, ja, wie die „ultraliber­alen Brüsseler Oligarchen“Frankreich zerstörten. Dass die Struktursc­hwächen Frankreich­s oder auch des Departemen­ts Aisne für die Wirtschaft­smisere zumindest mitverantw­ortlich sein könnten, lässt der FN-Bürgermeis­ter nicht gelten: „Die EU hindert den französi- schen Staat daran, eine ökonomisch­e Strategie mit den nötigen Reformen in die Wege zu leiten.“

Doch könnte, wenn Präsidenti­n Le Pen ihre protektion­istischen Ideen umsetzen würde, Volkswagen nicht ganz wegziehen? „Wir sind nicht gegen Europa an sich, wir wollen wie einst Charles de Gaulle ein ‚Europa der Vaterlände­r‘ – und das würde unsere Wirtschaft­sbeziehung­en mit Deutschlan­d keineswegs schmälern“, meint der Frontist, der vor dem Rathaus sieben blau-weiß-rote Trikoloren hissen ließ, die blaue EU-Fahne aber einzog. Er weist auch ökonomisch­e Berechnung­en zurück, dass der Euro-Ausstieg Frankreich in eine schwere Rezession mit hoher Inflation stürzen und gerade die wirtschaft­lich schwächere­n Le-Pen-Wähler hart treffen würde.

Große Unentschlo­ssenheit

Auch in den Straßen von Villers-Cotterêts findet sich niemand, der auf die EU gut zu sprechen wäre. „Seit der Abstimmung von 2005, als die Franzosen gegen die EU-Verfassung stimmten, diese aber trotzdem umgesetzt wurde, ist etwas zerbrochen“, sagt Liliane, eine ältere Dame vor dem Blumenlade­n. Die Kirchgänge­rin will aus Prinzip nicht für Le Pen stimmen, aber auch nicht für Macron, der mehr Europa wünscht. „Ich werde einen ungültigen Stimmzette­l abgeben oder mich der Stimme enthalten“, meint sie.

Lilianes Unentschlo­ssenheit gilt auch der EU. Bei aller Kritik daran fürchtet eine Zweidritte­lmehrheit der Franzosen laut Umfragen den Euro-Ausstieg. Ebenfalls unentschlo­ssen, weiß Liliane eines: „Am Sonntag stimmen wir auch über die EU ab.“Zuerst muss sie jetzt aber zur Heiligen Messe.

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Villers-Cotterêts, das 2005 seinen berühmtest­en Sohn Alexandre Dumas mit einer Statue würdigte (Bild), steht symbolhaft für die Probleme Frankreich­s, die das neue Staatsober­haupt anpacken muss.
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Foto: AFP / Ph. Huguen Bürgermeis­ter Franck Briffaut sorgt sich um die Jobs.

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