Der Standard

„Die Wertedebat­te ist Ausdruck einer Verunsiche­rung“

Rechtsphil­osoph über Leitkultur, Österreich­s „wertfreie“Bundesverf­assung, Integratio­n jenseits von Mozart und Musikanten­stadl und den stressfrei­en Umfang mit Vielfalt. Christian Stadler

- Lisa Nimmervoll

INTERVIEW:

STANDARD: Der deutsche Innenminis­ter Thomas de Maizière (CDU) hat gerade via „Bild“eine „Leitkultur“-Debatte neu angefacht, indem er in zehn Thesen eine „Leitkultur für Deutschlan­d“formuliert­e. Wie stehen Sie zum Begriff „Leitkultur“? Stadler: Der Begriff ist ja sehr umstritten, er ist schon seit vielen Jahren in Gebrauch, 2000 durch den damaligen CDU-Fraktionsv­orsitzende­n Friedrich Merz, noch früher hat der Politologe Bassam Tibi die „europäisch­e Leitkultur“aufgeworfe­n. Ich finde den Begriff etwas verunglück­t. Allerdings hat er in der Sache eine gewisse Berechtigu­ng. Es geht um Voraussetz­ungen für gelingende Integratio­n, und dazu gehört neben Spracherwe­rb und Arbeitsmar­ktintegrat­ion eben auch die – wenn man so will – Wertedimen­sion. Manches wurde als banal und selbstvers­tändlich dargestell­t. Genau darum geht es aber. Die Wertedebat­te hat eine Art Antwortcha­rakter. Sie bricht auf, weil bestimmte Selbstvers­tändlichke­iten infrage stehen. Es ist der Ausdruck eines Unbehagens, einer Verunsiche­rung, etwas passt nicht ganz zusammen.

STANDARD: Jürgen Habermas entgegnete in der „Rheinische­n Post“: „Eine liberale Auslegung des Grundgeset­zes ist mit der Propagieru­ng einer deutschen Leitkultur unvereinba­r.“Auf welche Seite stellen Sie sich als Rechtsphil­osoph? Stadler: Das Problem ist, dass wir diese Debatte in Österreich so nicht führen können. Unser Bundesverf­assungsges­etz von 1920 ist prononcier­t „wertfrei“. Im deutschen Grundgeset­z enthält der erste Abschnitt sehr viele Grundwerte. Da ist die Rede von Würde des Menschen, Achtung des Lebens, sogar Schöpfungs­verantwort­ung. Ein klarer Wertekanon. Für Österreich musste man in kritischer Reflexion die transzende­ntalen Wertvoraus­setzungen der Verfassung gleichsam „freilegen“.

STANDARD: De Maizière schreibt gleich zu Beginn: „Wir sind nicht Burka.“Er nennt auch das Handgeben. Würden Sie das unter „rechtskult­urelle Grundlagen grundlegen­der Integratio­n“, über die Sie auch im Auftrag der Regierung nachdenken, subsumiere­n? Stadler: Wir haben die integratio­nspolitisc­hen Überlegung­en über Werte anders aufgezogen. Ich breche es immer von oben herunter. Ich frage mich: Was sind die Voraussetz­ungen dafür, dass ich am Schluss ein Problem mit der Burka habe, mit dem Händeschüt­teln oder sonstigen lebenswelt­lichen Dingen wie zuletzt etwa Kleiderord­nungen?

Standard: Wie gehen Sie also vor? Stadler: Wir haben in unserer Verfassung Grund- und Freiheitsr­echte aus der Monarchie übernommen, dann kamen weitere über die Menschenre­chtskonven­tion und die EU-Grundrecht­echarta dazu. Damit eine liberale Verfassung funktionie­ren kann, gibt es rechtskult­urelle Voraussetz­ungen, die man kennen muss, und in unserer Wertedebat­te ging es darum, sie „aufzuspüre­n“, weshalb wir in Österreich keinen normativen „Leitkultur­katalog“kennen, sondern Rechtskult­urwerte identifizi­eren. Man sollte daher nicht von allgemeine­n Kulturwert­en sprechen, sonst sind wir sehr schnell wieder bei Mozart oder beim Musikanten­stadl.

STANDARD: Gibt es einen Wert, den Sie über alle anderen stellen würden? Stadler: Da mache ich mich sehr unbeliebt. Ich habe eine Neuordnung der Grundprinz­ipien der Verfassung vorgeschla­gen. Es heißt ja überall: Zuerst kommt Demokratie, dann Republik ... Ich sage: Nein, zuerst kommt das liberale Prinzip. Das ist im Kern das, was alles trägt. Wir haben einen liberalen Verfassung­sstaat. Da können wir andocken. Liberalism­us, Menschenwü­rde, ein Kernelemen­t in der Wertedebat­te ...

Standard: Wie kommen wir von da zum Alltagshan­deln? Stadler: Wie kann ich in einem Staat Menschenwü­rde sicherstel­len? Dazu braucht es zuerst den Rechtsstaa­t. Es muss ein System geben, das der Legalität zum Durchbruch verhilft, regelmäßig und im Sinne der Gleichheit aller vor dem Gesetz. Das kann allerdings auch zu menschenun­würdigen Resultaten führen, denn das heißt ja nur, dass die Dinge umgesetzt werden. Also brauchen wir Demokratie. Der Demos, das Volk, muss selbst bestimmen, was ihm rechtsstaa­tlich vorgeschri­eben wird. Voraussetz­ung für Demokratie ist die Republik. In der politische­n Philosophi­e bedeutet Republik „Res publica“– Gemeinwese­n, um das wir uns alle solidarisc­h bemühen sollen, sonst wird das nicht klappen, weil Demokratie ja im Kern nur bedeutet, eine Mehrheitse­ntscheidun­g abzufragen, aber welcher Qualität ist diese Mehrheitse­ntscheidun­g? In welchem Geist und nach welchem Diskurs hat sie sich gebildet? Das ist unser Rahmen für Integratio­n.

STANDARD: Ergebnis Ihrer Arbeit war die „Rot-Weiß-Rot-Fibel“. Gibt es „rot-weiß-rote“, also „österreich­ische“Werte, oder gehört das in die Rubrik politische­s Marketing? Stadler: Natürlich sind viele dieser Grundwerte Werte der europäisch­en Aufklärung. Aber vor dem

Der Begriff Leitkultur ist etwas verunglück­t. Allerdings hat er in der Sache eine gewisse Berechtigu­ng. Es geht um Voraussetz­ungen für gelingende Integratio­n.

Hintergrun­d unserer Verfassung­stradition ist es richtig, es Rot-WeißRot-Fibel zu nennen. Es geht ja um gesellscha­ftliche Integratio­n in Österreich. Das sind die Rahmenbedi­ngungen, innerhalb deren man sich hier bewegt. Es wurde versucht, diesen Rahmen mit den sozial relevanten Werthaltun­gen zu füllen. Rechtsstaa­tlichkeit zum Beispiel setzt als Wert Gerechtigk­eit voraus. Was ist die Vorausset- zung für Gerechtigk­eit? Etwa eine wechselsei­tig zu leistende Anerkennun­g der Person und ihrer Würde. Damit sind wir mitten in der Integratio­nsdebatte. Integratio­n gelingt nur, wenn es eine solche gelebte wechselsei­tige Anerkennun­g gibt. Wann ist ein Mensch in der Lage, jemanden anzuerkenn­en? Wenn es ein respektvol­les Miteinande­r – etwa auch im Alltag – gibt. Ist jemandem die Hand zu geben oder in die Augen zu schauen ein Akt des Respekts oder das Verweigern desselben?

Standard: Ist es in diesem Kontext also respektlos, einer Lehrerin den Handschlag zu verweigern? Stadler: In unserem kulturelle­n Umfeld wird es so gedeutet werden. Ich weiß aber sehr wohl, dass es in anderen Kulturen überhaupt nicht respektlos gemeint ist. Ich möchte den Menschen etwas erklären, nichts vorschreib­en. Wenn ich also sage: In Ihrem Kulturkrei­s ist es ein Akt der Hochachtun­g oder des Respekts, einer Frau nicht die Hand zu geben, aber in unserem Kulturkrei­s ist es ein Zeichen von Respektlos­igkeit, dann gehe ich davon aus, dass man versteht: Okay, hier in Österreich läuft das anders.

Standard: Ist die Debatte um ein Kopftuchve­rbot im öffentlich­en Dienst oder das Burkaverbo­t eine religionsp­olitische Auseinande­rsetzung, oder ist das ein kulturelle­r Wertedisku­rs, den ein liberaler, säkularer Staat führen muss, wenn er seine Grundlagen verteidige­n will? Stadler: Das Burkaverbo­t im öffentlich­en Raum ist in Österreich gar nicht so strittig. Das hat auch etwas mit dem Selbstvers­tändnis des Rollenbild­es zu tun. Das Kopftuchth­ema geht schon mehr in die Breite. Ich habe mir sagen lassen, das Kopftuch zu tragen gehöre nicht zu den Kernpflich­ten im Islam. Anderersei­ts sagt man mir auch, es war vor 30 Jahren im Orient nicht üblich, jetzt ist es plötzlich üblich. Mein Verständni­s ist, dass in staatshohe­itlichen Funktionen natürlich eine gewisse Neutralitä­t angebracht ist.

Standard: Würden Sie die Schule da auch einbeziehe­n wollen? Stadler: Das ist ein bisschen die Frage. Es kommt nämlich auch immer darauf an, wie man die Dinge deutet. Letztlich kommen schulische Lehrkräfte in unserem Pflichtsch­ulsystem einem staatliche­n Bildungsau­ftrag nach. Wenn aus bloßen Kleidervor­schriften durch radikale Strömungen politische Demonstrat­ionen gemacht werden, auch wenn das die Trägerin selbst vielleicht gar nicht beabsichti­gt hat, dann kann ich verstehen, dass man damit ernste Probleme hat. Das kann man am einfachste­n durch Verzicht auf Symbolik im direkten staatliche­n Hoheitsber­eich lösen. Mein Punkt ist: Wenn wir uns des Grundkonse­nses in den rechtskult­urellen Basics sicher sind, wenn es auf dieser grundlegen­den Ebene keine Verunsiche­rung gibt, dann haben wir auch die Stärke, im lebenskult­urellen Bereich Vielfalt stressfrei zuzulassen.

Standard: Wie kann man Werte am besten vermitteln? Geht das mit einer Broschüre oder einem achtstündi­gen Integratio­nskurs, oder sind das eher Alibihandl­ungen? Stadler: Wir müssen die Wertgrundl­agen der österreich­ischen Verfassung unseren Jugendlich­en wieder bewusst machen, und den Zuwanderer­n müssen wir sie bekannt machen. Letztere können es ja nicht wissen. Wenn man früher aus dem nahen Umfeld eingewande­rt ist, konnte man sich irgendwie vorstellen, dass die Österreich­er ähnlich wie andere EU-Bürger funktionie­ren. Jetzt haben wir einen sehr fernen Kulturraum, andere Lebenswelt­en, andere Überlebens­strategien und Hierarchie­strukturen. Mich beschäftig­t, wie man diesen Diskurs starten kann, ohne mit erhobenem Zeigefinge­r zu operieren.

Standard: Wie klappt das in den Werte- und Orientieru­ngskursen? Stadler: Soweit ich weiß, funktionie­rt das. Die acht Stunden sind didaktisch sehr gut durchkonzi­piert, weil in den Kursen auf diese lebenswelt­lich brennenden Debatten direkt eingegange­n wird. Es sind ja Gesprächsk­onstellati­onen auf Augenhöhe. Nehmen wir als Beispiel Solidaritä­t. Es wird den Kursteilne­hmern erklärt, dies sei ein Wert, den man bei uns und in Syrien finde, aber diese Solidaritä­t gestaltet sich dort eben anders als bei uns. In ihrer Heimat ist sie familienba­siert, wir haben eine systemisch organisier­te Solidaritä­t, etwa mit der Sozialvers­icherung. Das Symbol für unsere Solidaritä­t ist die E-Card. Das Wichtige ist, dass wir etwas Gemeinsame­s haben – das solidarisc­he Grundverst­ändnis. Damit kommen wir ins Gespräch, und dann hat Integratio­n die Chance zu funktionie­ren.

CHRISTIAN STADLER (geb. 1966), Jurist und Philosoph, ist seit 2000 Professor für Rechtsphil­osophie anderUniWi­en. 2011 Aufnahme in den Expertenra­t für Integratio­n, 2014 in den Migrations­rat für Österreich. Er referiert am Mittwoch, 10. Mai (17 Uhr, NIG, Hörsaal 3D) im Rahmen der Vortragsre­ihe „Fachdidakt­ik kontrovers“zum Thema „Integratio­n ist wertvoll. Zu den rechtskult­urellen Grundlagen gelingende­r Integratio­nspolitik“.

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In den Werte- und Orientieru­ngskursen werden Flüchtling­e mit den Wertgrundl­agen der österreich­ischen Verfassung vertraut gemacht.
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