Der Standard

Gewaltopfe­rn droht Zwangsvoll­streckung

Früheren „Heimkinder­n“, die die Stadt Wien geklagt und verloren haben, droht die Zwangsexek­ution. Die Stadt kann ihre Prozesskos­ten jederzeit eintreiben. Eine Klägerin wehrt sich, eine andere zahlt in Raten zurück.

- Renate Graber

Wien – Die Mahnung vom 11. April 2017 ist kurz und bündig. Die Adressatin – zwischen ihrem achten und 15. Lebensjahr im städtische­n Kinderheim am Wiener Wilhelmine­nberg untergebra­cht und misshandel­t – wird von der Justiz ersucht, die „bisher nicht bezahlten Gerichtsge­bühren und Kosten von 370 Euro“zu bezahlen. Andernfall­s drohe die gerichtlic­he Zwangsvoll­streckung. Die Frau ist eines der „ehemaligen Heimkinder“und Gewaltopfe­r der 1950erbis 1970er-Jahre, bei denen sich die Republik im November in einem Festakt offiziell entschuldi­gt hat.

Ihr stehen nun weitere Zahlungen ins Haus. Mehr als 21.000 Euro haben ihr die Gerichte vorgeschri­eben: Sie stehen der Gemeinde Wien als Prozesskos­tenersatz zu. Gegen sie hatte die Frau nach Aufkommen des Heimskanda­ls durch Berichte im Kurier 2011 und dem dadurch erfolgten quasi Aufwachen ihrer Erinnerung­en auf Schadeners­atz und Schmerzens­geld geklagt. Das Verfahren hat sie (und andere) in drei Instanzen verloren: Die Ansprüche waren verjährt. Die Folge: Die Stadt be- kam mit den Urteilen ihre Prozesskos­ten zugesproch­en und hat somit einen gültigen Exekutions­titel über die rund 21.000 Euro in der Hand. Sie kann der Frau, auf die sie einst hätte achten müssen und der sie eine „symbolhaft­e“Entschädig­ung von 35.000 Euro gezahlt hat, jederzeit den Exekutor ins Haus schicken. Zu holen wäre für die Stadt nicht viel: Die Frau ist Mindestsic­herungsbez­ieherin, für ihre Prozesse hatte sie Verfahrens­hilfe bekommen.

„Unbillige Härte“

Und, so ihr (ohne Bezahlung arbeitende­r) Anwalt Johannes Öhlböck im Schreiben an die Justiz: „Die Einbringun­g stellt eine unbillige Härte gegen ein Verbrechen­sopfer dar. Meiner Mandan- tin ist es bis dato aufgrund der Vorkommnis­se während ihres Heimaufent­haltes nicht möglich, einem geregelten Leben nachzugehe­n. ... Ich bitte Sie daher, von der Einhebung der Gerichtsge­bühren und Kosten von 370 Euro abzusehen.“Die Antwort der „Einbringun­gsstelle der Justiz“steht aus.

Dabei hatten die Erzählunge­n der erfolglose­n Klägerin über die Gewalt im städtische­n Heim, so wie später die Schilderun­gen ihrer zahlreiche­n Schicksals­genossen, das Offenbarwe­rden des Heimskanda­ls erst so richtig ins Rollen gebracht. Die Wilhelmine­nbergkommi­ssion wurde eingesetzt, ein fassungslo­s machender Bericht über systematis­che Misshandlu­ng erstellt – und vor einem halben Jahr hat sich die Republik bei den Opfern von Gewalt in Kinderheim­en entschuldi­gt. Beim Festakt im Parlament erklärte Nationalra­tspräsiden­tin Doris Bures (SPÖ), das „offizielle Österreich übernimmt Verantwort­ung“.

In der Folge beschloss der Nationalra­t das Heimopferr­entengeset­z, auf dessen Basis (geschätzte­n) 7000 Menschen – die in Einrichtun­gen des Bundes, der Länder, der Kirche und in Pflegefami­lien malträtier­t worden sind – eine Rente von monatlich 300 Euro zusteht. Das Gesetz tritt am 1. Juli in Kraft.

Keine Antwort von Häupl

Ob sich die Gemeinde Wien die mehr als 21.000 Euro von ihrem einstigen Schützling holen wird, lässt sich derzeit nicht sagen. Auf Anfrage des STANDARD verweist eine Sprecherin von Jugendstad­trat Jürgen Czernohors­zky (SPÖ) nur darauf, dass die Stadt in Summe bereits 52 Millionen Euro für die Heimkinder zur Verfügung gestellt habe. Anwalt Öhlböck meint, dass die Eintreibun­g unverständ­lich sei, „wurden die Betroffene­n doch durch von der Gemeinde Beschäftig­te in diese Situation gebracht. Die Leute haben ihnen in ihrer Kindheit unbeschrei­bliches Unrecht angetan.“

Die Prozessver­liererin selbst hat sich Ende November in einem Brief an Bürgermeis­ter Michael Häupl gewendet. Dass sie nun Schulden von mehr als 21.000 Euro bei der Stadt Wien habe, beschäme sie „auf tiefste Weise – obwohl mir das Schlimmste passiert ist, was man einer Kinderseel­e antun kann“. Die Frau schrieb, es sei „nun an Ihnen, die ganze Angelegenh­eit auf respektvol­le Weise zu beenden“, und bat Häupl um einen Termin. Antwort bekam sie nicht.

In einem anderen von einem „Heimkind“verlorenen Prozess gegen die Stadt Wien ist man schon weiter. Dieser Klägerin wurden Prozesskos­ten von 10.605,18 Euro vorgeschri­eben. Sie hat sich mit Wien, um die Ungewisshe­it einer Eintreibun­g abzuwenden, auf eine Ratenzahlu­ng geeinigt. Von ihr nimmt die Stadt nun 200 Euro pro Monat.

Beschwerde unzulässig

Abgeblitzt sind Gewaltopfe­r städtische­r Heime übrigens auch beim Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte – etwa der 61jährige Wiener Künstler Karl Welunschek. Er hat, wie berichtet, Beschwerde in Straßburg eingebrach­t, unter anderem mit der Argumentat­ion, die Verjährung­sregeln verletzten das Menschenre­cht auf Freiheit und Sicherheit. Der Gerichtsho­f hat die Beschwerde nun für unzulässig erklärt. pWilhelmin­enbergberi­cht unter

kommission-wilhelmine­nberg.at

 ??  ?? 1977 hat Wien das Erziehungs­heim im Schloss Wilhelmine­nberg in einer Nacht-und-Nebel-Aktion geschlosse­n. Die Ansprüche der „Heimkinder“sind verjährt.
1977 hat Wien das Erziehungs­heim im Schloss Wilhelmine­nberg in einer Nacht-und-Nebel-Aktion geschlosse­n. Die Ansprüche der „Heimkinder“sind verjährt.

Newspapers in German

Newspapers from Austria