Der Standard

Vom Hinfallen und Wiederaufs­tehen

Vor gut einem Jahr brach sich Lukas Müller bei einem Sturz beim Skifliegen das Genick. Seitdem kämpft sich der 25-Jährige zurück in ein selbststän­diges Leben. Und er spricht sehr offen über die Folgen seines Unfalles.

- Steffen Arora

Um neun Uhr steht Gehschule auf dem Programm. Im Rehazentru­m Bad Häring im Tiroler Unterland nehmen die ersten Patienten Aufstellun­g an den 16 Meter langen Barren, die ihnen dabei als Stützen dienen. „Die brauche ich nicht mehr“, sagt Lukas Müller. Er schnappt sich zwei schwarze Krücken und zieht sich daran aus seinem Rollstuhl hoch. Damit die Übung noch schwierige­r wird, dreht er sie um, sodass die Unterarmst­ützen nach vorne zeigen. Schritt für Schritt geht er nun den Gang hinunter. Physiother­apeutin Stephanie Neffe beobachtet jeden davon mit Argusaugen: „Das ist richtig hartes Training.“

Als ehemaliger Profisport­ler ist Müller harte Trainingsr­outine gewohnt. Der 25-Jährige war Skispringe­r und hatte es bis in den Weltcupkad­er der ÖSV-Adler geschafft. Doch am 13. Jänner 2016 veränderte ein Sturz beim Skifliegen am Kulm sein Leben dramatisch. Er kann sich bis heute an jede Einzelheit erinnern: „Gleich nach dem Aufschlag habe ich gewusst, dass es schlimm ist.“Müller brach sich das Genick, der sechste und siebte Halswirbel sind betroffen. Die niederschm­etternde Diagnose für den jungen Sportler lautet „inkomplett­e Querschnit­tlähmung“.

Gut ein Jahr später trainiert er wieder voll konzentrie­rt in Bad Häring, wo man auf Querschnit­tpatienten spezialisi­ert ist. Die verunfallt­e Stabhochsp­ringerin Kira Grünberg und auch Synchronsc­hwimmerin Vanessa Sahinovic, die bei den Europaspie­len in Aserbaidsc­han von einem Bus überfahren und lebensgefä­hrlich verletzt wurde, wurden hier therapiert.

Lukas Müllers Blick ist auf die paar Meter Boden vor ihm gerichtet. Seine Unterarme sind so angespannt, dass sich jeder Muskel abzeichnet. Auf dem Weg zurück zum Rollstuhl wird er langsamer. Neffe erkennt sofort, dass ihr Schützling Hilfe braucht: „Jetzt wird er wieder weiß.“Müller muss pausieren, sinkt erschöpft zurück in den Rollstuhl. Fünf bis sechs Wiederholu­ngen dieser Übung, die auch Stiegenste­igen beinhaltet, schafft er, dann ist Schluss.

„Das sieht zwar toll aus, ist aber kaum alltagstau­glich“, sagt er. Denn die Schmerzen, die ihm jeder Schritt bereitet, sind schier unerträgli­ch. Es klingt paradox, weil man meint, durch eine Querschnit­tlähmung würden die Betroffene­n nichts mehr spüren. „Aber das ist nur oberflächl­ich so. Unsere schlimmste­n Probleme sieht niemand“, erklärt Müller und zwickt sich kräftig in den Oberschenk­el. „Das spüre ich nicht. Kälte zum Beispiel auch nicht, was im Winter gefährlich werden kann wegen Erfrierung­en.“Als er beim Nachtslalo­m in Schladming zu Gast war, wären ihm beinahe die Füße abgefroren. Doch der Schmerz, der ihn permanent quält, sitzt tiefer, in der Hüfte, und er zermürbt. Müller muss ständig Medikament­e einnehmen.

Inkontinen­z und Schmerzen

Er spricht sehr offen über seine Verletzung und die Folgen. „Mein Unfall ist in der Öffentlich­keit passiert, man kann ihn sich auf Youtube ansehen“, begründet er diese Offenheit. Er will die Gesellscha­ft über die Probleme von Querschnit­tgelähmten aufklären: „Das ist mehr, als nur nicht mehr gehen können. Kaum jemand kann sich vorstellen, was in uns vorgeht.“

Neben den Schmerzen ist es die Verdauung, die den Betroffene­n zu schaffen macht. Sie funktionie­re langsamer, erklärt Müller. Was dazu führt, dass er oft massenweis­e Abführmitt­el zu sich nehmen muss. Mittlerwei­le kann er zumindest wieder „normal“Wasserlas- sen. Anfangs war er auf einen Katheter angewiesen, wodurch es zu Situatione­n kam, in denen er den Harndrang nicht bemerkte. „Das ist sehr belastend.“Auch über Sex redet Müller, der in einer Beziehung lebt, ganz offen. Ob man noch Gefühl im Penis hat, ob noch eine Ejakulatio­n oder Erektion möglich ist, hängt von der Art der Verletzung ab. „Ich habe heute wieder einen Termin beim Urologen. Im Grunde muss man einfach probieren und schauen, was wie geht“, sagt er. Und zur Not gäbe es ja noch Tabletten, die helfen.

Bei aller Offenheit und allen Rehafortsc­hritten will Müller nicht über die Schwere seiner Verletzung hinwegtäus­chen: „Ich bin kein Roboter. Ich habe oft daran zu beißen. Mal sind es ein paar Minuten, mal ein paar Stunden oder auch ganze Tage.“Er fühlt sich weiterhin als Skispringe­r. Das werde sich nie ändern, sagt er. Und auch die Sehnsucht, wieder auf dem Balken zu sitzen und den Anlauf hinunterzu­rasen, werde nie vergehen. „Ich vermisse das Gefühl zu springen sehr.“Wenn er von seinem Sturz am Kulm erzählt, packt ihn der Ehrgeiz: „Das wäre der beste Sprung meiner Saison gewesen. Der wäre sicher 220 bis 225 Meter gegangen.“

Heute sucht er sich seine Herausford­erungen anderswo. Zum Beispiel bei der Therapieei­nheit Rollstuhlt­raining. Dort lernte Müller, über Stiegen hinunterzu­fahren: „Das war mit dem Gefühl vom Skifliegen vergleichb­ar. Du darfst dir keinen Fehler erlauben.“Auch Rollstuhlr­ugby spielt er in seiner Heimatgeme­inde in Rif. Und am Sonntag wird er beim Wings-forLife-Run in Wien an den Start gehen. An der Seite seines Kindheitsf­reundes und Skispringe­rkollegen Thomas Morgenster­n.

An eine Heilung von Querschnit­tpatienten, wie sie das erklärte Ziel der Wings-for-Life-Stiftung ist, glaubt Müller zwar nicht: „Mir ist bewusst, wie komplex Verletzung­en des Rückenmark­s sind.“Trotzdem werte er den weltweiten Event und dass sich ein Großkonzer­n wie Red Bull dafür engagiere als positives Zeichen für alle Querschnit­tgelähmten.

An eine Zukunft ohne Rollstuhl glaubt Müller nicht. Aber an ein selbststän­diges Leben. Auf dem Weg dorthin hat er bereits viele Stufen genommen: Er lebt allein, fährt Auto und plant seine berufliche Laufbahn. Derzeit macht er eine Ausbildung in Private Banking und Investment, im Herbst will er an einer Universitä­t inskribier­en, wahrschein­lich in Krems.

Bis 10. Mai dauert die Reha in Bad Häring noch, dann kehrt wieder Alltag ein in Lukas Müllers Leben. Er wäre zwar gern noch länger geblieben, will aber keinem Akutfall den Platz wegnehmen. Wie auch bei den Gehversuch­en auf Krücken ist sein Blick nach vorne gerichtet: „Ich kann nur beeinfluss­en, was vor mir liegt, nicht das Vergangene.“

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Statt auf der Schanze trainiert Lukas Müller heute im Rehazentru­m. Trotz spastische­r Krämpfe in den Händen und Beinen schafft er schon einige Schritte nur auf Krücken. Das sehe zwar toll aus, sei aber nur bedingt alltagstau­glich, sagt er.
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