Der Standard

GESCHÜTTEL­T, NICHT GERÜHRT

- Julya Rabinowich

Von Barbara Coudenhove-Kalergi hat beeindruck­end ihre Erfahrunge­n als Flüchtling­skind geschilder­t, unter anderem die Schwierigk­eiten, ein „Dirndlmädc­hen“zu werden, und die Erleichter­ung, im weiter gespannten Rahmen des Großstadtl­ebens passender ankommen zu können.

Ich möchte dem etwas hinzufügen. Ich kam wesentlich später nach Österreich, dazu gleich nach Wien. Aber wo die kleine Barbara widerspens­tig wurde, war ich offenbar vor lauter Verzweiflu­ng bereit, auf alles zu verzichten, was meine Vergangenh­eit ausgemacht hatte: auf Identität, Sprache, Vorgeschic­hte. Ich wollte endlich so werden wie alle anderen in der Klasse auch, nichts wäre mir lieber gewesen, als ein Dirndlmädc­hen zu sein.

Allerdings gab es da Hürden verschiede­ner Art: In der Wühlkiste der Spendenkle­ider waren zwar Dirndln, aber keine, die über meine migrierte Wampe gepasst hätten. Meine Eltern verrieten sich mit jedem gestammelt­en Wort und bekamen das auch zu spüren. Statt meine spätere Zweisprach­igkeit als Mehrwert zu betrachten, deutete ich sie viel zu lange als einen peinlichen Makel, den ich beschämt verbergen wollte.

Dass diese wertvolle Zweisprach­igkeit öffentlich immer wieder vergällt wird, ist ein Negativwun­der und kostet Österreich Chancen. In den Religionsu­nterricht gehen konnte ich allerdings auch unbedirndl­t, und ich tat es mit bemerkensw­ertem Eifer, der meine damalige Religionsl­ehrerin vermutlich zu Tränen rührte.

Dass hinter meinem Engagement vor allem der großzügig beladene Naschtelle­r und die Hoffnung, besser behandelt zu werden als die türkischen und jugoslawis­chen Kollegen, standen, kam ihr vermutlich nicht in den Sinn.

Sogar als sprachlose Siebenjähr­ige war mir klar, dass diese Kinder eine andere Rangordnun­g einnahmen als der Rest der Klasse – eine Position, der ich zu entkommen trachtete. Bis meine Widerspens­tigkeit erwachte, brauchte es mehr als fünf Jahre. Bis diesen Kindern meine Solidaritä­t galt, weitere 25. Allerdings: besser spät als nie.

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