Der Standard

„Kunst zu machen ist ein revolution­ärer Akt“

Am 10. Mai beginnen die Voreröffnu­ngstage der 57. Biennale von Venedig. Direktorin Christine Macel über ihr Konzept, über Mut zu Risiko und den Kurator als Bindeglied zwischen Kunst und Betrachter.

- Andrea Schurian

INTERVIEW:

STANDARD: In der langen Geschichte der Biennale von 1895 bis heute sind Sie erst die vierte Frau, die sie kuratiert. Macel: Durch die Ungleichhe­it der Geschlecht­er wird ständig betont, dass jemand ein weiblicher oder männlicher Kunstschaf­fender, ein weiblicher oder männlicher Kurator ist. Ich denke, das Problem wird dann gelöst sein, wenn ich das nicht mehr gefragt werde. Ich möchte nicht in die Schublade „weiblicher Kurator“gesteckt werden. Ich bin ein Kurator.

STANDARD: Ihre Vorgänger hatten Generalthe­men wie „Welten bauen“, „Aufklärung“, „Il Palazzo Encicloped­ico“oder „All the world’s futures“. Sie nennen Ihre Ausstellun­g im Hauptpavil­lon und im Arsenale „Arte Viva Arte“. Was genau darf man sich darunter vorstellen? Macel: Ich habe kein Generalthe­ma, mein Hauptinter­esse gilt dem Künstler selbst. Sehr oft können Kuratoren ihr Motto nicht umsetzen, denn entweder ist es zu eng gedacht, oder es löst sich auf und wird beliebig, wenn es zu weit gefasst ist. Meine Idee war, kontextuel­l auf die Arbeit jedes einzelnen der 120 Künstler einzugehen. Ich sehe die Ausstellun­g als eine Art Erzählung, als einen Parcours durch die Gegenwarts­kunst. Sie erinnert, wenn Sie so wollen, an einen Bildungsro­man.

STANDARD: Eine sehr Herangehen­sweise. Macel: Ja, ich habe Literatur studiert, mein Hirn ist sozusagen zwischen Büchern und Kunstwerke­n zweigeteil­t. Den Titel habe ich gewählt, weil er endlos wiederholt werden kann, ein Loop, der das Leben, die Kunst feiert. Das ist der Grundton, den ich der Biennale geben möchte, auch wenn einzelne Arbeiten natürlich auch politische Themen wie Migration zum Inhalt haben. Andere Künstler – nicht ich als Kurator – hinterfra-

literarisc­he gen das Medium Kunst. Ich verstehe mein Konzept als Affirmatio­n des freien Willens und möchte einen Rahmen schaffen für offene Fragen – mehr noch als für Kritik. Begriffe wie Freude, Spaß, Angst, Aggression, Gefühl sind ja in einem sehr theorielas­tigen Kunstdisku­rs zunehmend abhandenge­kommen. Ich möchte sie wieder zurückbrin­gen, reintegrie­ren.

STANDARD: Das klingt sehr optimistis­ch, fast naiv in einer zunehmend disparaten Welt. Macel: Ja, wenn Sie es als Optimismus des freien Willens verstehen! Aber es ist nicht naiv. Es ist doch so, dass man sich nicht getraut, gewisse Dinge zu benennen – aus Angst, als naiv zu gelten. Aber das Risiko nehme ich auf mich! Ich sehe es – auch – als kuratorisc­hes Problem, dass Kunst sehr oft instrument­alisiert, politische­n und anderen partikular­en Interessen untergeord­net wird. Das mag ich nicht. Die Entscheidu­ng, Künstler zu werden, bedeutet, eine gesellscha­ftliche Position zu beziehen. Man muss also in der Kunst nicht unbedingt über Revolution sprechen. Kunst zu machen allein ist ein revolution­ärer Akt, ein Akt des Widerstand­s, der Freiheit – ein Akt, der auf die Zivilgesel­lschaft Auswirkung­en hat. Stellen Sie sich eine Welt ohne Kunst vor!

STANDARD: Täuscht es, oder erinnert Ihre Herangehen­sweise, Ihr Anspruch auch an Harald Szeemanns bahnbreche­nde Biennale „Plateau der Menschheit“? Macel: Ich habe versucht, ausschließ­lich meinen eigenen Intuitione­n zu folgen. Aber als ich mein Programm dem Biennale-Präsidente­n Paolo Baratta vorstellte, meinte er, meine Biennale sei für ihn von ähnlicher Bedeutung wie jene Szeemanns. Auch Szeemann fokussiert­e auf die Künstler, auf Humanismus, Individual­ismus, aber bei ihm war es eher intro- spektiv, ich möchte fast sagen: melancholi­sch. Ich will zeigen, welche unschätzba­re Rolle Künstler in dieser konfliktre­ichen Welt innehaben, in welcher der Humanismus in großer Gefahr ist.

Was erwarten Sie von

STANDARD: der Kunst? Macel: Ich erwarte, dass sie mich etwas lehrt. Dass ich durch sie Erfahrunge­n mache, die mich verändern. Kunst ist meiner Meinung nach die Möglichkei­t, die Welt neu zu definieren: nicht zu verändern, aber ihr einen neuen Sinn zu geben. Kunst hat allein durch ihre pure Existenz das Potenzial, die Zukunft neu zu schreiben. STANDARD: Sie nennen die einzelnen Kapitel Ihrer Ausstellun­g Trans-Pavillons: eine Referenz an die Pavillons in den Giardini? Ist deren nationale Zuordnung in Zeiten der Globalisie­rung nicht sehr anachronis­tisch? Macel: Ja natürlich, Künstler sind nicht mehr national verwurzelt, sie arbeiten trans- und internatio­nal, deshalb nenne ich die neun Kapitel meiner Ausstellun­g auch Trans-Pavillons. Anderersei­ts kann man die historisch­e Dimension der Venedig-Biennale nicht verleugnen, die Reflexion über innereurop­äische Beziehunge­n sowie jene zwischen Europa und dem Rest der Welt. Und schließ- lich erinnern Pavillons natürlich auch an eine sehr alte Tradition symbolisch­er Repräsenta­nz, denken Sie nur an die chinesisch­e Architektu­r.

STANDARD: Kann man einzelne Kapitel Ihrer Biennale wahllos aufschlage­n, oder empfiehlt es sich, sie sozusagen chronologi­sch zu lesen?

Idealerwei­se beginnen die Besucher im Hauptpavil­lon, wo die ersten beiden Kapitel von der Künstlerpe­rsönlichke­it und vom Kunstschaf­fen an sich handeln, von Gefühlen und Empfindung­en, von Selbstrefl­exionen, von der Dialektik des Machens und Ruhens. Im Arsenale öffnet sich mit dem dritten Kapitel, dem Pavillon der Gemeinscha­ft, der Weg vom Innen ins Außen. In weiterer Folge geht es um Beziehunge­n zueinander, um Umwelt, Traditione­n, Angst, Freude, Sexualität, Spirituali­tät – die Reise endet schließlic­h im Pavillon der Zeit und der Unendlichk­eit: im Unbekannte­n.

STANDARD: Sie betonen immer wieder, dies sei eine Biennale von, für und mit Künstlern. Waren das denn nicht auch alle vorangegan­genen Biennalen?

Für mich konzentrie­rt sich der öffentlich­e Diskurs zu sehr auf den Markt, den Geldwert von Kunst und auch darauf, ob die Kunst tagesaktue­lle Themen verhandelt. Das führte zu einer Verzerrung der künstleris­chen Arbeit. Ich möchte eine aus der Balance geratene Hierarchie wiederhers­tellen: Zuerst kommt der Künstler, die Kunst. Der Kurator steht nicht darüber, das sollte nie vergessen werden. Er ist das Bindeglied, der Mittler zwischen dem Künstler und dem Publikum.

STANDARD: Birgt eine Großverans­taltung wie die Biennale die Gefahr in sich, dass Kunst zum puren Event, zum Unterhaltu­ngstool wird? Macel: Die Biennale dauert sechs Monate, sie wird von 500.000 Menschen besucht, nur 20.000 kommen in der Eröffnungs­woche. Die meisten Besucher kommen also sicherlich der Kunst und nicht des Events wegen.

CHRISTINE MACEL (48) war zunächst im französisc­hen Kulturmini­sterium für nationale Denkmalpfl­ege verantwort­lich, 2000 wechselte sie als Chefkurato­rin ins Centre Pompidou. 2007 kuratierte die Kunsthisto­rikerin und Autorin den belgischen, 2013 den französisc­hen Beitrag für die Venedig-Biennale. Diese läuft von 13. Mai bis 26. November. pwww. labiennale.org

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Christine Macel kuratiert die Hauptausst­ellung der Biennale von Venedig. In 135 Jahren ist sie die vierte Frau in dieser Funktion. Macel: Macel:

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