Van der Bellen fehlt bisher der Mut
Nach hundert Tagen ist noch unklar, wie der Bundespräsident das Amt ausfüllen will
Seine Wahl hat quer durch Europa positive Reaktionen hervorgerufen und ist von vielen als Stopp des Vormarsches von Rechtspopulisten interpretiert worden. Aber von dem Schwung ist hundert Tage nach dem Amtsantritt von Alexander Van der Bellen nicht viel übriggeblieben.
Dabei hat Van der Bellen mit starken Auftritten begonnen. Er brach mit der Tradition, dass die erste Auslandsreise eines österreichischen Staatsoberhaupts in die Schweiz führt. Er wählte Straßburg und Brüssel – ein wichtiges Signal. Bei seinem Auftritt im EU-Parlament unterstrich er seinen proeuropäischen Kurs, in seiner Rede wandte er sich gegen die „Verzwergung“und flocht geschickt seine Familiengeschichte – die Mutter Estin, der Vater Russe, er selbst Tiroler, Österreicher und „ein Kind Europas“– ein. Auch wenn er oft den Eindruck eines Grantlers vermittelt, in diesem Augenblick wirkte er sogar wie ein europäischer Sympathieträger.
Schon in seiner Antrittsrede hatte er betont, er wolle nicht nur überparteilicher Bundespräsident sein, sondern einer „für alle in Österreich lebenden Menschen“. Der von ihm postulierten präsidialen Willkommenskultur entsprach auch, dass er nach dem unsäglichen Sager von Außenminister Sebastian Kurz über den „NGO-Wahnsinn“in Zusammenhang mit Rettungsaktionen von Flüchtlingen im Mittelmeer Vertreter von Hilfsorganisationen in die Hofburg einlud. Das war seine Art, Kritik zu üben und Solidarität zu zeigen. Auch sein Besuch im Rahmen der Italien-Visite im Hauptquartier der „Operation Sophia“, bei dem er sich über die Maßnahmen der EU im Kampf gegen die Flüchtlingskrise im Mittelmeer informierte, war ein solches Signal. Aber nicht jeder wird diese eher subtilen Botschaften wahrgenommen haben. ufgefallen ist Van der Bellen dagegen sogar im Ausland mit seiner Aussage über das Tragen von Kopftüchern. Wer nur diesen Satz, es werde „noch der Tag kommen, wo wir alle Frauen bitten müssen, ein Kopftuch zu tragen“, gehört hatte, konnte die Ironie nicht unbedingt wahrnehmen. Erst bei TV-Aufnahmen erschließt sich durch die Mimik, dass dieser Spruch nicht wirklich ernst gemeint war.
Aber ein Bundespräsident muss so sprechen, dass er nicht missverstan-
Aden werden kann bei einem sensiblen Thema wie Islamophobie. Dass Van der Bellen dann noch mit einer historisch falschen Darstellung von Ereignissen aus der NS-Zeit in Dänemark Kopftuchträgerinnen indirekt mit verfolgten Juden verglichen hat, war ein Fehler. Dass er diese Aussage erst spät – und noch dazu in Boulevardmedien – selbst als Fehler bezeichnet hat, zeugt nicht gerade von Einsicht.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich die FPÖ nur über den Aufruf zur Solidarität mit Kopftuchträgerinnen empörte, nicht aber über den Juden-Vergleich. Von den Grünen kam, ebenfalls bezeichnend, keine Kritik, Parteichefin Eva Glawischnig wollte „keine Noten verteilen“.
Van der Bellen, der sich vom Wirtschaftsprofessor und intellektuellen Grünen-Chef zum heimatverbunden Wahlkämpfer gewandelt hat, ist noch ein Suchender, wie er seine Aufgabe als Bundespräsident ausfüllen will. Die Latte, die er sich selbst in seiner Antrittsrede gelegt hat, hat er bisher nicht übersprungen. Mutig in die neuen Zeiten, war sein Anspruch. Diesen Mut hat er bisher bei der Ausgestaltung des Amtes vermissen lassen.