Auf der letzten Silb b
Der 62. Eurovision Song Contest findet von 9. bis 13. Mai in der Ukraine e zu Udo Jürgens und „Merci, Chérie“. Der Autor und Song-Contest-E
Ich war noch niemals in Luxemburg. Der Satz ist nicht von mir, aber der Inhalt könnte von mir sein, der Satz ist von Udo Jürgens, mit dem ich im Frühstücksraum des Hotels La Gorge du Chien sitze, er sagt diesen Satz und lächelt, er spricht ihn melodiös summend, so als sei er eine Zeile aus einem Lied oder der Refrain. Es ist der 4. Mai 1966, und morgen findet zum zehnten Mal der Grand Prix Eurovision de la Chanson statt.
Udo isst ein Rührei, dazu Toast, und er trinkt Kamillentee, den er stark mit Kunsthonig süßt, er sagt, das sei gut für seine Kehle, und lacht, weil das Hotel unverständlicherweise auf Deutsch „Hundekehle“heißt, er muss seine Gurgel schonen, er hat morgen Abend einen großen Auftritt, aber offenbar geht das Summen nach jedem Bissen und jedem Schluck ein bisschen besser. „Ich war noch niemals in Luxemburg“, mir kommt vor, dass das letzte Wort vielleicht eine Silbe zu lang ist, es holpert irgendwie, ich sage es ihm, er aber schüttelt den Kopf, man könne das schon, indem man das „In“verschleppt und gleich in Luxemburg übergehen lässt, oder Luxemburg dehnt und auf die übliche Pause zwischen dem ersten und zweiten Teil des Refrains verzichtet, dann passt das auf seine kleine Melodie, die zweite Zeile hatte er noch nicht, er singt da einfach Platzhalterworte wie Honigersatz, Salz und Tee und alles, was er sonst noch auf dem Tisch findet. Er erzählt, dass das unter Textkomponisten gar nicht unüblich sei, Nahrungsmittel als Platzhalter zu verwenden, Paul McCartneys Yesterday hieß als Arbeitstitel „Scrambled Eggs“, und Ralf Bendix hätte seinen Babysitter Boogie in der Demoversion immer als „Tilsiter Tango“gesungen.
Letztes Jahr gewann in Italien beim Eurovision Song Contest France Gall, sie sang für Luxemburg, weil es in Frankreich so viele großartige Kandidaten gab, man wich dann aus ins talenteärmere kleine Nachbarland, das war ja gängige Praxis, sogar Belgien lieferte Legionäre wie Solange Berry 1958 und Griechenland Nana Mouskouri 1963, Luxemburg nimmt sie alle in Sangesasyl, und einen Sieger gab’s auch schon aus Frankreich, das war Jean-Claude Pascal 1961, den Udo schnippisch „Old Segelohr“nennt, vielleicht weil er selbst ziemliche Löffel hat.
France Gall sang Poupée de cire, poupée de son von Serge Gainsbourg, der Text war und ist zweideutig konnotiert, als die Sängerin herausfand, dass es im Song um Defloration ging, weigerte sie sich fortan das „dumme Lied“, wie sie es bezeichnete, jemals wieder zu singen oder auch nur darüber zu sprechen. Udo vergöttert Gainsbourg, der ja auch nicht gerade mit kleinen Ohren gesegnet ist, und bezeichnet France Gall als „süßen Käfer“, und er soll morgen Abend Österreich für den Song Contest vertreten. Ich lese ihm, damit er seine Stimmbänder schont und um ihn aufzuheitern oder abzulenken, das vor, was ich gestern im Tourismusbüro bekommen habe, das deutschsprachige Kapitel einer kleinen, selbstironischen Broschüre des Fremdenverkehrsverbandes in den zwölf Sprachen der Wettbewerbsteilnehmer: Zehn Legenden über Luxemburg
1. Der Osterhase wird dort wie ein Heiliger verehrt.
2. Unter dem gesamten Land sind gigantische Wonton-SuppenFabriken, die durch ein komplizier- tes Pipelinenetz chinesische Restaurants auf der ganzen Erde versorgen.
3. Radrennprofi Fränk Schleck lebt in einem riesigen Zinnbecher und trägt Schuhe, die aus der Haut von hunderten Wespen gefertigt sind.
4. Rückwärts geschrieben heißt das Land wie ein mexikanischer Grottenolm (Grubmexul), ein Hinweis darauf, dass Luxemburg einst zu einem aztekischen Riesenreich gehörte.
5. Reis wird individuell bemalt, jedes einzelne Korn, von eigens dafür ausgebildeten Pferden.
6. Energie wird in Luxemburg aus Speichel gewonnen, der in enormen Zinnbechern gesammelt wird, Spucken ist fast so wichtig wie Atmen.
7. Die Währung Luxemburgs ist die Kirsche, jeder trägt statt eines Huts ein Nest auf dem Kopf, ab und zu fällt eine Kirsche ins Nest, so basiert Reichtum auf dem Zufallsprinzip.
8. Die Echternacher Springprozession ist eine religiöse Prozession, die jedes Jahr am Dienstag nach Pfingsten im Bezirk Echternach stattfindet. Teilnehmer „springen“zu Polkamelodien durch die Straßen des Landes in ein kleines Dorf namens Nospelt, um dort eine der nur an diesem Tag erhältlichen Keramikpfeifen in Vogelform, den Péckvillchen, zu bekommen ( E Péckvillchen ass eng aus Toun gebake Päif a Form vun engem Villchen), ein kulturelles Erbe aus der Zeit der Azteken.
9. Nur Fränk Schleck hat das Monopol, diese Pfeifchen zu produzieren.
10. Man glaubt in Luxemburg, die Seele bestünde aus Zinn und Spucke.
Aber Udo verzieht sein Gesicht nicht, und ich bin jetzt auch nicht mehr sicher, ob ich das lustig finden soll, was mir gestern noch so Spaß gemacht hat, na ja, bisschen mit der Brechstange sind die Witze schon, kann sein, dass man als Luxemburger so etwas komisch findet, ich kann das nicht beurteilen, ich war ja, wie gesagt, auch noch niemals hier, weiß nicht, wie die hier so, nun ja, „ticken“, und eine Wonton-Suppe hab ich ebenfalls noch nie gegessen, aber vielleicht speichert Udo sie ab als Platzhalter, oder es ist bereits geschehen. „Ich war noch niemals in Luxemburg, schwamm noch niemals in Wonton, sprang nie durch Echternach in Vogelform.“
Warum nur, warum
Udo ist mit seinem Frühstück fertig, ich hab kaum was runterbekommen, so nervös bin ich, nur ein hart gekochtes Ei, das mir fast im Hals stecken geblieben ist, mir kommt vor, dass ich für ihn nervös bin, er ist die Ruhe selbst, wir werden abgeholt, ein Fahrer, der sich als Hans vorstellt, bringt uns zur Villa Louvigny, wo Lichtproben und zwei Durchläufe stattfinden sollen, morgen muss dann alles sitzen. Sein Lied heißt Merci, Chérie, ich hatte ihm abgeraten, sein geliebtes Fagott zu spielen, stattdessen solle er sich an einen Flügel setzen und singen.
Es gibt bei dem Lied, von dem ich überzeugt bin, dass es zumindest unter die ersten Sechs kommen kann, so wie in den Vorjahren, als er 1964 mit Warum nur, warum Sechster wurde und 1965 mit Sag ihr, ich lass sie grüßen Vierter, es gibt also eine Stelle in dem Lied, die mich rätseln lässt, und auch er sie mir nicht erklären kann, er stammelt etwas hilflos, das sei eine sogenannte Geisterno- te, er hätte das komponiert, es hätte sich quasi selbst geschrieben, ja, er sänge es auch, aber hätte keine Ahnung, wie die Note sich da immer einschleicht. Gestern am Abend sind wir noch durchs Örtchen geschlendert, durch die Unterführung Kinnekswiss-Glacis, dort sang er, weil die Akustik so gut war, Merci, Chérie einmal fast komplett durch, also bis zu der fraglichen Stelle: „... schau nach vorn, nicht zurück, zwingen kann man kein Glück, denn kein Meer ist so wild wie die Liebe ...“, die Liebe auf dem -be lang gedehnt, und da ist sie plötzlich, die Geisternote, was hört man da, hört man sie tief oder hoch? Wie singst du sie, Udo? Hoch oder tief? Er behauptet tief, aber ich höre sie hoch, wenn er gesagt hätte, er sänge sie hoch, hätte ich sie vermutlich tief gehört.
Gut, es ist jetzt nicht direkt eine Geisternote, die Brahms mal einem seiner Schüler so erklärt hat: „Wenn man vier Töne im richtigen Rhythmus spielt, hört man den fehlenden fünften.“Und als der immer noch nichts hörte, meinte der Meister: „Sie müssen nur auf die Noten achten, die sie nicht spielen“, worauf der resigniert seufzte: „Ach, das kann ich auch zu Hause.“Aber was hier auf der letzten Silbe von Udos Liebe passiert, sind zwei Töne, die auf unterschiedliche Art wahrgenommen werden können, und wir nennen sie aus Ermangelung einer Bezeichnung und Hommage an diesen Ort die Kinnekswiss-Note.
Insgeheim hoffe ich, dass Udo siegen wird, denn ein viertes Mal wird er wohl nicht antreten, das meinte er vorhin auch beim Rühr-