Der Standard

Das Gedächtnis ist ein Hund

In seinem neuen Roman denkt Daniel Wisser über die österreich­ische Provinz nach. Und über das Erinnern. Und vor allem über das Schreiben.

- Tanja Paar

Alies (sic!) ist weg. Und was hilft gegen das Verschwind­en? Die Erinnerung. Um die Erinnerung geht es oft in den Texten des 1971 in Klagenfurt geborenen Autors Daniel Wisser. Aber auf eine unsentimen­tale, lakonische Weise. Denn: Das Gedächtnis ist manchmal ein Hund, mehr Fluch denn Segen. Was passierte am 3. Juni 1978? Oder am 1. August 1976? Der Protagonis­t von Wissers viertem Roman, Michael Braun, weiß das. Leider. Er geht seiner Frau schon auf die Nerven mit den ewig gleichen Geschichte­n aus seiner Kindheit in der österreich­ischen Einöde der 1970er- und 1980er-Jahre.

Dort saßen auch die titelgeben­den Löwen im Zwinger. Und Michael Braun erlebte just neben den gefürchtet­en Viechern seine erste Amour fou, die er detailgena­u schildert. Ob auch detailgetr­eu, bleibt dahingeste­llt, denn immer wieder kippt der Text ins Surreale. Zum Beispiel, wenn sich der Protagonis­t, der ein abgebroche­nes Kunstgesch­ichtestudi­um sein Eigen nennt, mit Tintoretto unterhält. Dabei haben die beiden ein gutes Auskommen. Die Nebenfigur Evelyn hat es schlechter getroffen: Sie muss sich seit 1981 jeden Tag mit Alfredo Rampi unterhalte­n, der als Kind in einen Brunnensch­acht gefallen und darin umgekommen ist. Eine gewisse Alkoholsuc­ht ist da nur konsequent.

Konsequent ist es auch im literarisc­hen Kosmos von Daniel Wisser, dass bald ein zweiter Michael Braun in der Geschichte auftaucht, gleichsam eine Spiegelung des ersten. Die Frau des ersten findet Gefallen am zweiten oder umgekehrt, das ist nur eine Frage der Perspektiv­e. Mit dieser spielt Wisser virtuos in all seinen Texten. Immer schon hat es ihm die kunstvolle Form angetan: Sein erstes Buch, Dopplergas­se acht (2003), war ein „Roman in 45 Strophen“, also formal ein Langgedich­t. Sein zweites Buch Standby (2011) ein Versuch über die Passivkons­truktion, mit dem er auch am Bachmann-Preis teilnahm. 2013 folgte Ein weißer Elefant, 2016 eine Sammlung von Kürzestpro­satexten Kein Wort für Blau.

Wisser ist ein Meister der kurzen Form: Auf Facebook und Twitter zeigt er seit Jahren seine intelligen­ten Wortverheb­er und Anagramme. Musik u. a. für Filmund Theaterpro­duktionen macht er seit 1994 mit dem Ersten Wiener Heimorgelo­rchester (EWHO), dessen verspielt-schräge Texte an Andreas Okopenko, Ernst Jandl und Ror Wolf erinnern – und sich vor ihnen verneigen. Wie experiment­ell Wisser eigentlich ist, zeigt er zum Beispiel in seinen Performanc­es, die ein genuiner Teil seiner Arbeit sind: Gerne trägt er seine Bücher in freiem Vortrag vor. Also ohne Vorlage, Wort für Wort.

Inwendig statt auswendig

Auch bei der Präsentati­on von Löwen in der Einöde in Wien gab es eine „Sprechung“statt einer Lesung des Autors. Das macht einen speziellen Effekt: Anders als ein Schauspiel­er kann Wisser seinen Text nämlich nicht auswendig, er kann ihn inwendig. Er hat jedes einzelne Wort geschriebe­n. Jetzt spricht es aus ihm heraus. Indem er es in den Mund nimmt, überprüft er nochmals, ob jedes an seinem richtigen Platz ist. Dass seine Bücher bisher selten mehr als 100 bis 200 Seiten umfassen, überrascht also wenig. Im Gegenteil: Es verlockt zu der These, dass Daniel Wisser eigentlich ein Lyriker sein könnte. Wenn man ihn nur ließe. Aber Lyrik verkauft sich schlecht, und die Verlage wollen Romane. So steht auch über Löwen in der Einöde die Bezeichnun­g Roman. Aber was ist ein Roman? Auch das ist manchmal nur eine Frage der

Perspektiv­e.

Daniel Wisser, Schriftste­ller, Performer und Musiker, lebt in Wien. Da er über ein ähnlich gutes Gedächtnis verfügt wie sein Protagonis­t Michael Braun, tritt er am 8. 5. im Finale der „Millionens­how“an.

Daniel Wisser, „Löwen in der Einöde“. Roman. € 17,– / 128 Seiten. Jung-undJung-Verlag, Salzburg 2017

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Foto: Heribert Corn Daniel Wisser: Experte für „Sprechunge­n“seines neuen Romans.
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