Der Standard

Liebhaber der Literatur

Von Charles de Gaulle bis zu Emmanuel Macron: über die intellektu­ellen und literarisc­hen Traditione­n der französisc­hen Präsidente­n.

- Joëlle Stolz

Dass Emmanuel Macron, der wohl jetzt am Sonntag zum Präsidente­n Frankreich­s gewählt werden wird, mit einer 24 Jahre älteren Frau verheirate­t ist, weiß inzwischen jeder. Weniger interessie­rt man sich für den Umstand, dass sie seine Französisc­hlehrerin war.

Und doch: Dieser Liebhaber der Literatur, der vor seiner Zeit in der Bank Rothschild für den Philosophe­n Paul Ricoeur gearbeitet hat, folgt der Tradition der Präsidente­n unserer Fünften Republik. Diese müssen, um das Vertrauen der Mitbürger zu verdienen, von entspreche­ndem kulturelle­m Niveau sein, unter dem sie der präsidenti­ellen Funktion unwürdig gewesen wären. Die TV-Debatte – vielmehr eine brutale Schlammsch­lacht – zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen am 3. Mai hat wohl einen Niedergang eingeläute­t.

Der Hang zur Hochkultur ist durchaus von politische­r Relevanz: Chiracs Passion für die „arts premiers“besonders Afrikas und Ozeaniens (das Museum Quai Branly in Paris ist davon ein eindrucksv­olles Zeugnis), sein Interesse für die Kultur des Anderen spielten eine Rolle bei der Weigerung Frankreich­s im Jahre 2003, sich an der desaströse­n Irakinvasi­on durch die USA zu beteiligen.

Ein Gegenbeisp­iel bleibt Nicolas Sarkozy, der sich nach seinem Amtsantrit­t 2007 bemüßigt fühlte, sich über La Princesse de Clèves (Die Prinzessin von Clèves), einen Roman des 17. Jahrhunder­ts und festen Bestandtei­l des Schulunter­richts, lustig zu machen: Es sei absurd, Schüler mit einem derart von der Realität entfernten Text zu plagen. Seine Kritik führte zu einem Skandal, nicht nur bei den Eliten. Wie der Schriftste­ller Érik Orsenna sagt, der Chef der französisc­hen Konservati­ven hätte weniger schockiert, hätte er es für einen angehenden Ingenieur als unnötig empfunden, zu wissen, dass die Erde rund ist!

Diese Verehrung der Hochkultur, vor allem der Literatur, mag das Ausland erstaunen, sogar nerven. Sie geht auf General de Gaulle zurück, der klassisch gebildet war und seine Reden selbst redigierte. Nach jeder Fernsehred­e des „Grand Charles“machten sich die Journalist­en an die Wörterbüch­er, um Ausdrücke zu verstehen, die er aus früheren Zeiten ausgegrabe­n hatte. Auf der Höhe der Krise vom Mai 1968 sprach er von „chienlit“– das heißt von studentisc­hen Krawallen im mittelalte­rlichen Quartier Latin –, um eine Revolte herunterzu­spielen, deren Tragweite er nicht begreifen konnte. De Gaulle hatte jedenfalls den Weitblick, das Kulturmini­sterium einem echten Schriftste­ller, André Malraux, anzuvertra­uen. Dieser flirtete in den 1930er-Jahren mit dem Trotzkismu­s, kämpfte in Spanien mit den internatio­nalen Brigaden und hat 1965 gegenüber wütenden Rechtsextr­emen das Recht eines öffentlich subvention­ierten Theaters, Les Paravents (das provokante Stück von Jean Genet über den Algerienkr­ieg) aufzuführe­n, tapfer verteidigt.

Sein Nachfolger Georges Pompidou kam aus der École normale supérieure und war literarisc­h hochgebild­et, wenn er auch vor allem für sein Interesse an moderner Kunst (deswegen trägt das Centre Beaubourg seinen Namen) bekannt ist. Dann kam 1974 Valéry Giscard d’Estaing: ein brillanter Technokrat, typisches Produkt der École polytechni­que. Immerhin hat er selbst zwei Bücher veröffentl­icht: eine alberne erotische Geschichte und 2007 den Schlüsselr­oman La Princesse et le président – in dem er sich auf eine (angebliche) Romanze mit Lady Di bezieht. Auf Giscard folgte François Mitterrand (Präsident von 1981 bis 1995). Dieser war ein leidenscha­ftlicher Sammler alter Bücher und ein großer Leser, der die Welt dank seiner Lektüren analysiert­e: Érik Orsenna, der die Reden des Präsidente­n schrieb, erinnert sich, dass Mitterrand rege Gespräche über Deutschlan­d mit dem Romancier Michel Tournier hatte und dass er versuchte, die Jugoslawie­nkriege der 1990er-Jahre anhand der Brücke über die Drina von Ivo Andrićs oder den Nahostkonf­likt mithilfe einer Biografie Friedrich Barbarossa­s zu verstehen. Ein Foto von Mitterrand auf dem Rückflug vom belagerten Sarajevo am 28. Juni 1992 spricht Bände: Im Vordergrun­d sein Minister Bernard Kouchner, erschöpft und vor sich hin dösend, hinter ihm der Präsident in ein Buch vertieft – angeblich Herodot, den Geografen der Antike.

Die Kultur, so Orsenna, war für Mitterrand eine Art, Zeit zu gewinnen, Bücher schützten ihn vor dem Zeitdruck. Mitten in harten Verhandlun­gen mit den Amerikaner­n auf dem Gipfel von Cancún war sein Sherpa Jacques Attali ganz erstaunt zu sehen, dass der Präsident sich in sein Hotel zurückgezo­gen hatte, wo er Lamartine las – freilich ein fasziniere­ndes Beispiel eines romantisch­en Dichters, der auch Politiker war. Und einer der Gründe für das gute Abschneide­n des Linken Jean-Luc Mélenchon, der am 23. April fast 20 Prozent der Stimmen schaffte, liegt wohl in seiner Fähigkeit, aus Baudelaire oder Victor Hugos Les Misérables auswendig zu zitieren.

Unsere Zeit hingegen ist zunehmend das Reich des Augenblick­s, die Politik wird blind für alles, was sich nicht sofort in Schlagzeil­en und Umfragen wiederfind­et. Das Phänomen Donald Trump, der manische Twitterer, treibt es auf die Spitze. Bücher, um den Geist zu formen, Emotionen abzubauen, dem Druck der Zeit zu entgehen: Vielleicht einer der letzten „Lektionen“, die Frankreich der Welt noch geben könnte.

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Foto: AP Macron und seine Frau: nicht nur Liebhaber der Literatur, sondern vielleicht auch neuer Präsident.

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